Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/Sechster Quartettmorgen

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Vierter und fünfter Quartettmorgen Gesammelte Schriften über Musik und Musiker (1854) von Robert Schumann
Sechster Quartettmorgen
Rondo’s für Pianoforte (2)


[269]
Sechster Quartett-Morgen.
Leon de St. Lubin, 1stes großes Quintett für 2 Violinen, 2 Bratschen u. Vlcll. (Es dur, W. 38.)
L. Cherubini, Quartett für 2 Violinen, Bratsche und Violoncell. Nr. II. (C dur.)


Den erstgenannten Componisten halte ich auch nach seiner Musik für einen Emigrirten, für einen, der sein Vaterland, sei’s nun freiwillig oder gezwungen, verlassen, sich ein neues Vaterland gesucht und von dessen Sitten und Sprache angenommen. Sein Quintett ist ein Gemisch von französischem und deutschem Geblüt, nicht unähnlich der Muse Meyerbeer’s, der freilich von allen europäischen Nationen borgt zu seinem Kunstwerke, von dem man gar nicht wissen kann, was er alles mitbringt, wenn er, ähnlich wie Ritter Spontini Compositions-Kunstreisen nach England, dergleichen etwa zu den Buschmännern unternimmt, sich zu neuen Schöpfungen zu begeistern und Andere durch selbige. Ich aber lobe mir meine Muttersprache, rein gesprochen, jeden Ausdrucks fähig, kräftig und klangvoll, wenn ich deshalb [270] auch den eingewanderten Ausländer, wie St. Lubin, nicht schelten mag, der ihrer noch nicht vollkommen mächtig, und im Gegentheil schon sein Streben ehre. Von einem erhebenden Totaleindruck hinterließ somit das Quintett Nichts; man wurde hin- und hergezogen, konnte nirgends Fuß fassen. Am meisten auffallend zeigt sich der Mangel an Originalerfindung; was uns inniger ergreifen soll, scheint mir entlehnt oder läßt sich wenigstens auf Vorbilder zurückführen; und wo der Componist sich selbst gibt, wird er vag und allgemein. So ist gleich der Anfang im Grund der der G moll-Symphonie von Mozart: so liegt dem ersten Thema des letzten Satzes ein Rossini’scher Gedanke (aus Tell), so dem zweiten ein Beethoven’scher (aus der A dur-Symphonie) zum Grunde. Im Scherzo wüßte ich keine Quelle nachzuweisen; es ist aber auch nicht bedeutend. Im Adagio wurde mir aber am meisten klar, woran es dem Componisten gebricht; hier, wo der Meister den Vorrath und Reichthum innern Lebens am ersten aufdecken kann, sah es traurig still. Andererseits bekundet das Quintett eine leichte schnelle Feder, Formensinn und Harmonieenkenntniß. Immerhin war mir, nachdem ich es gehört, zu Muthe, als sollt’ ich ausrufen: „Musik, Musik, gebt mir Musik.“

Das nächste Musikstück traf uns somit in etwas erkälteter Stimmung; aber als von der Hand Cherubini’s umstrickte es uns, daß wir schnell des vorhergegangenen vergaßen. Es scheint mir dies zweite Quartett lange [271] vor dem ersten derselben Sammlung geschrieben, und vielleicht gar die Symphonie, die, wenn ich nicht irre, bei ihrer ersten Aufführung in Wien so wenig gefiel, daß sie Cherubini nicht veröffentlichte und sie später in ein Quartett umgewandelt haben soll. So ist denn vielleicht der umgekehrte Fehler entstanden: klang die Musik nämlich als Symphonie zu quartettartig, so klingt sie als Quartett zu symphonistisch, wie ich denn aller solcher Umschmelzung abhold bin, was mir wie ein Vergehen gegen die göttliche erste Eingebung vorkömmt. Den frühern Ursprung möcht’ ich am Unverzierteren erkennen, das Cherubini’s ältere Compositionen vor seinen neuern auszeichnet. Freilich bin ich geschlagen, träte der Meister selbst heran und sagte: „Du irrst, Freund: beide Quartette sind zu nämlicher Zeit geschrieben und ursprünglich nichts anders als Quartette.“ Und so kann, was ich bemerkt, nur Vermuthung bleiben und soll Andere zum Ueberdenken anreizen.[H 1] Im Uebrigen erhebt sich auch diese Arbeit hoch genug über die Zahl der Tageserscheinungen, über Alles, was uns von Paris aus zugeschickt wird; und Einer, der nicht lange Jahre hintereinander geschrieben, gelernt und gedacht, wird so etwas auch nie zu Stande bringen können. Einzelne trocknere Tactreihen, Stellen, wo nur der Verstand gearbeitet, finden sich wie in den meisten Werken Cherubini’s, so auch hier, selbst aber auch dann noch etwas Interessantes, sei’s im Satz, eine contrapunctische Feinheit, eine Nachahmung; etwas, was zu denken gibt. Meisten Schwung [272] und meisterliches Leben tragen wohl das Scherzo und der letzte Satz in sich. Das Adagio hat einen höchst eigenthümlichen A moll-Charakter, etwas Romanzenartiges, Provenzalisches; bei öfterem Anhören erschließt es sich mehr und mehr in seinen Reizen: der Schluß davon ist der Art, daß man wieder wie von neuem aufzuhorchen anfängt und doch das Ende nahe weiß. Im ersten Satz treffen wir Anklänge an Beethovens B dur-Symphonie, eine Nachahmung zwischen Bratsche und Violine, wie in jener Symphonie eine zwischen Fagott und Clarinette, und bei dem Haupt-Rückgang in der Mitte dieselbe Figur, wie an demselben Ort in dem nämlichen Satz der Symphonie von Beethoven. Im Charakter sind die Sätze aber so verschieden, daß die Aehnlichkeit nur Wenigen auffallen wird.

Zum Schluß dieses Musik-Morgens machten wir uns an ein im Manuscript zugeschicktes Quartett. Die erst ernsthaften Gesichter nahmen nach und nach einen Ausdruck von Ironie an, bis endlich Alles in ein fortwährendes Kichern gerieth, und sämmtliche Musiker mit springenden Bogen zu spielen schienen. Ein Goliath von einem Philister starrte uns an aus dem Quartett. Wir wüßten dem Componisten, der übrigens sein Werk nach Kräften ausstaffirt, Nichts zu rathen, und danken schließlich für den guten Humor, in den er die Gesellschaft versetzt.




Anmerkungen (H)

  1. [GJ] II.508, Anmerkung 24: Schumanns Vermuthung war richtig. In Dr. E. Bellasis’ „Cherubini, Memorials of his life“ (London 1874) heißt es: „Die Aufnahme des Es dur-Quartetts veranlaßte Cherubini, sich wieder seiner D dur-Symphonie zuzuwenden, die er in London geschrieben hatte, aber sie wurde in ein Quartett verwandelt, mit einem neuen Adagio, geschrieben März 1829.“ G. Groves Dictionary of music and musicians berichtet noch eingehender: „1815 bot die [Londoner] philharmonische Gesellschaft ihm [Cherubini] 200 Lstr. für eine Symphonie, eine Ouvertüre und ein Vocalstück. Cherubini kam im März nach London, die Symphonie in D wurde beendigt den 24. April und aufgeführt den 1. Mai. Sie wurde 1829 in ein Quartett umgeschrieben mit einem neuen Adagio.“
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