Kertsch und das asow’sche Meer

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Titel: Kertsch und das asow’sche Meer
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aus: Die Gartenlaube, Heft 25, S. 326–329
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Bericht aus dem Krimkrieg 1855
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Kertsch und das asow’sche Meer.

Wissenschaft und Handwerk des Krieges sind für uns Kinder des Friedens, die wir in den letzten vierzig Jahren aufwuchsen, seltsame Dinge. Wir verstehen sie im Grunde genommen gar nicht. Was wir als Gerechtigkeit, Gesetz, Eigenthum, Polizei, Nächstenliebe oder nur als unser eigenes Interesse respectiren und heilig halten, kommt in dieser Wissenschaft und Kunst gar nicht vor. Städte, Länder, Menschen, Personen und Sachen jeglicher Art stellen sich zu einander in ganz verkehrte Gesichtswinkel. Wenn ein Mensch, der sehr hungrig ist und kein Geld hat, für’n Dreier Semmel stiehlt, wird die Heiligkeit des Eigenthums feierlich und umständlich [327] an ihm gerächt. Nimmt er’s wohl gar mit Gewalt, können kaum die Richter ihre Entrüstung unterdrücken und das Publikum ruft Bravo zu seiner Verurtheilung. Nimmt er nun gar einen ganzen Sack voll Korn, steckt er wohl gar eine volle Scheune in Brand, sprengt er wohl gar sein eigenes Kornmagazin in die Luft, so sträuben sich unsere Haare über solche Verwahrlosung der menschlichen Natur. Stellen sich aber nun dergleichen moralische und rechtliche Verirrungen ganz im Großen und durch das Teleskop des Krieges dar, so zucken die Telegraphen aller Welt entzückt unerhörte Großthaten der Glorie und des Ruhmes in die Ministerial-, Zeitungs- und Börsenlokale, und die Völker der Erde lesen, horchen und sprechen begeistert von einem Siege des Rechtes, der Ehre u. s. w., je nachdem die Nachrichten lauten.

Nehmen wir z. B. die Großthaten von Kertsch und im asow’schen Meere.

Die Engländer und Franzosen verbrannten und versengten so und so viel hunderttausend Wispel[WS 1] Getreide und so und so viel Dutzend Schiffe der Russen. Die Russen selbst sprengten ihre vollen Vorrathsmagazine in die Luft, verbrannten Häuser und vernichteten so und so viel von ihren eigenen Schiffen. Wir wissen zwar genau, weshalb man sich vereinigte, um diese großartigen Werke der Zerstörung zu vollbringen, wegen der noch nicht geordneten „vier Punkte“ nämlich; aber warum hört hier nun aller Maßstab des Rechtes und Gesetzes auf? Warum geben sich die Gesetzgeber unter einander nicht solche Gesetze, die wirklich halten und gehalten werden? Wenn Schulze gegen Müller privatim nicht Krieg führen darf, sondern der Angreifende zum Justizcommissarius gehen muß, warum durften England gegen Frankreich, Frankreich gegen Deutschland, Rußland gegen den Westen, der Westen gegen den Osten u. s. w. Krieg führen? Kein Schulze und kein Müller dürfen in irgend einem dieser Länder in Streitigkeiten um eine Grenze sich gegenseitig beschießen und die Scheunen und Ställe in die Luft sprengen, damit der, welcher am Meisten ruinirt hat, endlich Recht bekomme. Warum gilt aber diese „alte Gerechigkeit“ gerade unter den Rechtshütern und Gesetzgebern nicht? Sie haben sich allerdings für alle mögliche Fälle Gesetze gegeben und gegen jede Verletzung „Verträge“ geschlossen. Warum halten sie dieselben nicht? Gewaltsame Empörung gegen geltende Gesetze tritt, wenn in Masse vorgenommen, allemal als Revolution auf. In Revolutionen von Unterthanen ist jeder Patriot verpflichtet, sich niederwerfen zu helfen. Jeder Krieg ist aber, da Gesetze und Verträge dadurch gewaltsam und im Großen verletzt werden, wesentlich Revolution. Warum geben die größten Feinde aller Revolutionen so schlechtes Beispiel?

Seltsame, naive, gemüthliche Fragen und Raisonnements. Ja wohl. Aber in einem „gemüthliche Familienblatte“ konnten wir unmöglich ohne Weiteres an die versenkten, verbrannten, in die Luft gesprengten Schiffe und Getreidevorräthe von Kertsch und des asow’schen Meeres herantreten, ohne uns unterwegs erst etwas zu wundern über diese merkwürdigen Versuche, die sogenannten „vier Punkte“ durch gegenseitige Beförderung von Hungerkur annehmbar, verdaulich und wohl gar appetitlich zu machen. Und nun können wir den erweiterten, neuen Kriegsschauplatz zunächst auch nur als ein aufgetragenes Gericht der Geographie genießen. Wie sieht er aus? Wie groß ist er? Was hat er für Handel und Gewerbe, für die Kultur-Interessen, für die Kriegsentscheidung, für Rußland, für die Alliirten zu bedeuten? Zur Beantwortung dieser Fragen gehört vor allen Dingen eine Karte, die wir unsern geehrten Lesern später bieten werden. Das asow’sche Meer ist die Vorhalle des schwarzen für Rußland, das erst während der letzten 70 Jahre Schritt für Schritt sich bis an’s schwarze Meer und ganz und gar um das asow’sche herum ausgedehnt hat. Vor hundert Jahren noch fielen die russischen Grenzen weit jenseits Cherson, die Krim und das asow’sche Meer. Dieses hat als Vorhalle zu dem schwarzen und als große Verkehrsstraße für die umliegenden, äußerst getreidereichen Ufer eine große Wichtigkeit nicht nur für den Unterhalt der Truppen auf der Krim, sondern auch für alle kornausführenden Häfen des schwarzen Meeres.

Die unzähligen Getreideschiffe, welche bis zu dem Kriege und selbst bis zum 24. Mai dieses Jahres den bis dahin völlig unbekannten Rücken des asow’schen Meeres bedeckten, wirkten wohlthätig auf die Größe unserer Viergroschenbrote. Die große Theuerung des Brotes durch ganz Europa und zwar nach einer gesegneten Ernte (in England bis über das Doppelte der Preise von 1851) ist hauptsächlich der abgeschnittenen Zufuhr vom schwarzen und asow’schen Meere zuzuschreiben. Die Engländer, welche sofort nach ihrem blutlosen Siege mehr als zweihundert russische Schiffe, größtentheils kleinere Getreideschiffe, theils zerstörten, theils nahmen, werden die Folgen dieses Sieges noch lange beim Bäcker bezahlen müssen und wir auch. Der ausgeführte Ueberfluß an Getreide von den Ebenen und Steppen und Flußufern am asow’schen Meere war während der letzten zehn Jahre um Hunderttausende von Wispeln gestiegen. Besonders reich waren die Zufuhren am Don, Bug, Boristhenes und etwa dreizehn andern Flüssen herunter, deren Namen wir noch nicht einmal alle kennen, wie denn überhaupt alle die ungeheuren Steppen und Thäler, die sich um das asow’sche Meer herum dehnen und strecken (zum Theil bis China) zu den unbekanntesten der Erde gehören. Wir haben nur allgemeine Bilder davon. Gegen das Meer hin und an den Flußufern Ackerbau und Viehzucht als Eigenthum großer adeliger Grundbesitzer, weiterhin einsame Kosakendörfer zwischen ungeheuern Steppen, durch welche der Pferdehirt einsam reitet, einsam, oft Monate und Jahre lang, nur zuweilen gegen Wölfe jagend.

Zwischen den Flüssen Sal und Manitsch (die sich in den Don ergießen) treiben sich noch ganz nomadisch ohne feste Wohnorte kleinäugige, breitknochige Kalmücken umher, die während jedes Winters, wie die Zugvögel, weithin nach südlicheren Gegenden wandern. Am Manitschflusse finden wir deutsche Ansiedler und mancherlei Kultur. Davon bei einer spätern Gelegenheit. Die bevölkertste und kultivirteste Strecke am asow’schen Meere zieht sich von Taganrog (wo der Kaiser Alexander starb) nach dem Don und daran hinauf, wo zunächst die Städte Asow, Nakhitschevan und Tscherkask als Getreidesammler für Ausfuhr wichtig geworden sind. Im Ganzen erscheinen die Ufer des asow’schen Meeres eben, öde und traurig. Das Wasser selbst ist träge und gilt für sehr ungesund, da Sümpfe und stagnirende Landseen ihre giftigen Dünste von allen Seiten hierher führen. Als besonders gefährlich gilt das Klima auf der Halbinsel Kertsch, dem großen östlichen Flügel der Krim, dessen Spitze jetzt die siegreichen Alliirten einnehmen.

Cobden hat bereits auf Grund der Aussagen eines asow’schen Kaufmannes den Siegern einen furchtbaren Tod durch wegzehrende Fieber prophezeiht. Zwar ist das „faule Meer“ ziemlich fern, aber den Quartieren der Sieger dicht gegenüber, wälzt sich das feuchte, heiße, labyrinthische Ungeheuer der Halbinsel Taman im Schlamme und Sande vom Kaukasus herunter bis dicht vor Yenikale, so daß zwischen der Sandbank und dem andern Ufer nur eine sehr enge Straße für Schiffe in’s asow’sche Meer bleibt.

Von der merkwürdigen Eroberung des asow’schen Meeres, der Hauptquelle für den Proviant der russischen Krim-Armee, haben wir schon mancherlei Berichte von Augenzeugen. Wir geben auf Grund derselben ein Bild davon. Die Expedition bestand aus 10,000 Franzosen, 5000 Türken und 3500 Engländern, wornach die englischen Blätter sehr wenig Berechtigung zu dem majestätischen „Wir“ haben. Die Schöpfer und Armee der Expedition waren Franzosen. Wenn’s nach den Engländern gegangen wäre, würde man die Furcht vor den 40 in der Straße von Kertsch versenkten Schiffen fortgesetzt haben, obgleich sie längst von Grundeis und Strömung weggeschwemmt worden waren. Die ganze Macht belief sich auf zwölf große Linienkriegsschiffe, 50 Fregatten und eine Menge kleinere Fahrzeuge und Kanonenboote unter dem Haupt-Commando des französischen Admirals Bruat, der englischen Abtheilung unter Sir E. Lyons. Am 24. Mai, dem Geburtstage der Königin von England, den Lord Raglan vor Sebastopol durch doppelte Portionen Fleisch für sich und die Armee feierte, von 1 Uhr Mittags an zogen sich die Schiffe in der Straße von Kertsch zusammen, die an ihren engsten Stellen bis etwa 11/4 deutsche Meile, bei Yenikale freilich durch eine weit ausgestreckte Sandbank aus kaum 1/2 Stunde sich verengt.

„Als wir,“ schreibt ein Augenzeuge, „etwa um 3 Uhr um die Taklispitze herum in die Straße von Kertsch einfuhren, hatte ich eine gute halbe Stunde Gelegenheit, das links hingestreckte Land zu studiren, Ebenen, Rücken und Runzeln und Hügel zwischen dem üppigsten, saftigsten, blüthenreichsten Grün des Mai’s, dazwischen zerstreute ärmliche Häuser und Hütten und schwarze, traurige Salzsümpfe. Aber bald zog sich unsere Aufmerksamkeit ausschließlich hinauf nach Kertsch, von wo ferne Donner und weiße Rauchwolken den begonnenen Kampf verkündigten, der freilich eigentlich blos als das großartigste Feuerwerk gelten kann. Plötzlich erhob sich eine [328] ungeheure weiße Rauchsäule wie ein gigantischer Ballon. Es folgte ein dumpfes Gekrach: ein Magazin war in die Luft gesprengt worden. Kurz darauf dasselbe Phänomen; einige Minuten später zitterte das Schiff unter unsern Füßen, das Meer bedeckte sich mit zitternden Wellen, die Erde bebte, ein unbeschreibliches, dumpfes Krachen wälzte sich durch die Luft: ein Pulvermagazin war in die Wolken geschleudert! Nicht lange darauf wiederholte sich dieses donnernde Krachen dreimal auf einmal, ein dreifaches Donnern in einem großen Athemzuge: drei Magazine in die Luft geschleudert! – Später steigen hier und da Flammen mit schwarzen Rauchwolken auf, hier auf dem Lande, dort auf dem Meere. Häuser und Dörfer und Magazine und Schiffe brannten. Letztere wälzten sich rathlos und gleichsam von zweifachem Tode, dem Ertrinken und dem Feuer, schmerzhaft gequält, lange umher, bis sie halb sinkend, halb vom Feuer vernichtet allmälig mit ihren Flammen versanken. Und als nun der bleiche Mond am klaren Himmel aufstieg und bald zwischen schwarzem Rauche heller, bald über aufflackernden Flammen bleicher, bald hinter neuen und sich die ganze Nacht hindurch wiederholenden Explosionen ganz unsichtbar zu werden schien, aber doch immer ruhig blieb, ohne sich um diese furchtbaren Feuerwerke der Zerstörung zu bekümmern, kam uns das Gefühl, daß wir eine Kriegsscene erlebten und spielten, wie sie in der Geschichte wohl niemals so großartig, so unblutig und doch so gewaltig in ihrer Erscheinung, so wichtig in ihren Folgen vorgekommen sein mag.“ (Jedenfalls ist dadurch den Russen ihre Hauptlebensmittelquelle abgeschnitten und das Ministerium Palmerston, das schon im vollständigen Falle war, noch auf eine neue Frist gerettet worden.) „Wir landeten, wie die meisten Truppen, zwischen einem Salzsee und den Klippen von Ambulaki, einem Dorfe zwischen zwei vollständig verlassenen Batterien (Kamiesch- und Pavlovska- oder Pauls-Batterie), von wo aus die Hauptarmee ohne Widerstand in Kertsch eingedrungen war. Kertsch ist das alte Panticapäum, von dessen griechischen Alterthümern eine gute Sammlung im britischen Museum sich befindet, besonders interessant wegen eines alten, vollständig erhaltenen Stuhlbeines, dem thatsächlichen Beweise, daß die Griechen die Vergoldung gut verstanden und ihre andern Kunstwerke (Statuen) auch vergoldet haben mögen.“

„Wir bivouakirten die erste Nacht auf dem Hügel von Ambulaki, das, wie alle umliegenden, zerstreuten Hütten und Höfe, ganz menschenleer war. Nur später zeigten sich einige zurückgebliebene tartarische Familien, die um Schutz baten, der ihnen auch zugesichert ward. Das Land sieht hier wunderschön aus. Der üppigste blühende Rasen steigt von duftigen Hügeln dicht bis an das Meer herunter und spiegelt schwere Blumen in dessen Wellen. Etwa 200 Yards vom Meere steigt das Land bis zu 100 Fuß. An diesem Saume hin, am Meere entlang verzetteln sich unabsehbar einzelne Gehöfte und Ackerwirthschaften noch ganz nach demselben Schnitt, wie sie Virgil vor 2000 Jahren besang. Die muntern Franzosen waren uns hier überall zuvorgekommen und hatten die verlassenen Häuser weit und breit durchplündert, obwohl sie größtentheils nur alte Schuhe und Kleidungsstücke, saures Schwarzbrot und stinkendes Oel zwischen den nackten, weißen Wänden in dumpfer, stinkender Atmosphäre fanden. Das Vieh war weggetrieben, die Meubles zerstört worden. Nur Enten und Gänse wurden von den Franzosen noch in ziemlicher Menge gefangen und gebunden unter fürchterlichem Gegacker und Gekreisch weggeführt und zum Theil an englische Soldaten verkauft. Auch ein Schwein hatte man aufgetrieben. Es wurde als Communaleigenthum gleich von allen Seiten mit so viel Säbeln, als heran kommen konnten, zerhackt und so brüderlich getheilt.“

Und wie sieht diese plötzlich Haupt der Tagesgeschichte gewordene, bis vor vierzehn Tagen kaum dem Namen nach bekannte Stadt aus? Merkwürdig genug. Ehe die Alliirten kamen und die Russen selbst die größten Schönheiten und Schätze der Stadt in die Luft sprengten, war sie eine der modernsten architektonischen Schönheiten Rußlands, mit circa 12,000 Einwohner, befohlen und geschaffen durch einen strengen, gradlinigen Ukas des vorigen Kaisers. Sie streckt sich an der nördlichen Küste der geraden, durchgehenden, schön gepflasterten Hauptstraße und einem erhabenen „Bürgersteige“ in der Mitte. Sie wird in rechten Winkeln von andern schönen Straßen durchschnitten und mündet in ein Polygon, Viereck, aus, um welches eine Arcade läuft, welche den Marktplatz einschließt. Die Häuser glänzen alle in militärischer Ordnung mit ihrem weißen Kalkstein, wie Odessa. Der Marktplatz nimmt den alten türkischen Bazar ein und die Stadt selbst den Platz des alten Panticapäum, der Hauptstadt des einst gewaltigen Pontusreiches, das über ganz Kleinasien herrschte, und unter Mithridates VII. die er oberte Römerweltherrschaft fünfzig Jahre lang (121 bis 64 vor Christi Geburt) auf das Blutigste und Wüthendste bekämpfte. Vom Marktplatze führt eine gigantische Treppe auf einen Felsen, wo die Hauptkirche steht. Der Bauplatz dazu wurde in den Felsen gehauen, der noch heute Mithridates-Berg heißt. Hier zeigt man noch ein Grabmal, welches die irdischen Ueberreste der einstigen „Geißel Roms“ enthalten soll. Ein roh ausgehauener Sitz auf der Spitze des Felsens wird als der Lieblingsplatz bezeichnet, von wo Mithridates seine ungeheueren Flotten dem cimmerischen Bosporus (dem asow’schen Meere), damals der Schrecken des „civilisirten Westens“, überwacht und dirigirt haben soll. Die jetzige Kirche ist ein imposantes Bauwerk im griechischen Style, doch soll die Treppe hinauf mit ihren gigantischen Vasen und Greifen, dem Symbole des Mithridates, noch viel schöner und neben dem „Museum“ die größte Merkwürdigkeit sein. Ueber das Museum, eine reiche Sammlung von Antiquitäten aus den zahlreichen Grabhügeln umher, die noch jetzt in großer Menge die Höhen der Halbinsel schmücken, erwarten wir bestimmtere Berichte. Die Sammlung im britischen Museum ist aus diesem angekauft worden. Weiter in’s Land hinein giebt es oft meilenlange unabsehbare Steppen mit Höhenzügen, deren traurige Eintönigkeit nur durch zahlreiche Ausrufungszeichen der alten mithridatischen und späteren tartarischen Herrlichkeit, durch regelmäßige, viereckige Grabeshügel und Todtensäulen unterbrochen wird.

Schilderungen des Landes und der Stadt und der Gegenden des asow’schen Meeres wird es bald in Hülle und Fülle geben. Wir beschränken uns hier nur noch auf ein Bild des Marktlebens in Kertsch, wie es ein Augenzeuge aus der Zeit vor dem Kriege gab: „Zwanzig verschiedene Racen ellbogen und stoßen sich hier auf dem Markte, Russen, Tartaren, Nogaïten, Juden, türkische Matrosen, Genueser, Ragusaner, Kosaken, Kalmücken, Griechen, deutsche Kornmäkler von Odessa, Armenier u. s. w., alle agitirt und getrieben von mercantiler Gewinnsucht. Nach den Geschäften rumpeln sie davon in die Ebenen hinunter auf Wagen, die jeder eine Geschichte des Volks sind, die Russen in „Teleka’s“, die Tartaren auf ihren Karren, die auf großen, rohen Holzscheiben, statt der Räder, von trägen Ochsen davongezogen werden, die Nogaïten in ihren „Modgyars“, geflochtenen Körben auf Rädern, Andere reitend auf Kameelen, Andere auf Pferden, Andere auf den Wogen und in elenden Booten und Schiffen.

„Während der Markttage ist Alles Fülle und buntes Leben. Im Uebrigen hält sich die Stadt ruhig und reinlich, kämpft viel gegen Elemente und Witterungswechsel und ist für feindliche Angriffe leicht zugänglich.“

Als Hafen ist Kertsch, obgleich mit einer langen Reihe von Steinbollwerk, ziemlich unbedeutend. Die immer mehr zurücktretenden Gewässer der Meerenge von Yenikale machen es tiefer gehenden Schiffen ganz unmöglich, heranzukommen. Völlige Unbekanntschaft mit den verschiedenen Tiefen hatte die merkwürdige Expedition der Alliirten (obgleich sie längst wußten, daß der Weg nach Sebastopol wesentlich über Kertsch führte) so lange verzögert. Die Art, wie man zu der nöthigen Kenntniß kam, ist merkwürdig. Ein englischer Seeoffizier nahm ein russisches Schiff, auf welchem sich eine Privatequipage des Gouverneurs von Kertsch befand. Er schickte höflich eine Botschaft an denselben, daß er ihm sein Privateigentum nicht vorenthalten möchte und es ihm zur Verfügung stünde. Das Anerbieten ward angenommen, und so liefen die Boote des englischen Schiffes mit der Equipage in den Hafen von Kertsch ein und peilten und sondirten das Wasser unterwegs sorgfältig. So fand man, daß es einen Weg für kleinere Dampfschiffe bis ganz nahe an die Küste gäbe. Diese Entdeckung führte zu der merkwürdigen Expedition, an welche die Russen durchaus nicht gedacht zu haben scheinen, so daß sie im panischen Schrecken überall landeinwärts flohen und sich nur Zeit nahmen, alle die ungeheuern Lebensmittelvorräthe, Magazine und Gebäude, die dem Feinde Vortheil gewähren könnten, durch Brand und Explosionen zu vernichten, eine Art Moskau-Patriotismus. Wir können uns wohl kaum denken, wie die Stadt nun aussehen mag und werden deshalb wohl gut thun, dem merkwürdigen Platze, der Garantie der Alliirten für die Herrschaft über das asow’sche Meer und vielleicht auch über die Krim, später einen neuen Besuch abzustatten.

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Anapa.

Nicht minder wichtig als die Eroberung von Kertsch ist die Einnahme von Anapa durch die Tscherkessen. Die Russen haben auch diese Festung verlassen, ohne sich auf eine Vertheidigung einzulassen und jetzt steht die ganze asiatische Küste wieder der Zufuhr vom schwarzen Meere offen und die Kaukasier sind wie zuvor Herren derselben. Anapa, auf einem Vorsprung des Gebirges Kysilkaija gelegen, war die stärkste jener zahlreichen Küstenfestungen, durch welche Rußland bis vor Kurzem die Völker des Kaukasus vom schwarzen Meere abzusperren versuchte. Sie hat einen guten Hafen und unter seinen 8000 Einwohnern befinden sich viele reiche Kaufleute, die einen besonders wichtigen Handel mit den Bergvölkern treiben. Die dort mit vielen Kosten aufgebauten Kriegsmagazine sind wahrhaft großartig und werden, wenn die Russen nicht Zeit und Gelegenheit gehabt, die großen Vorräthe zu bergen, den Tscherkessen eine sehr willkommene Beute bringen.

Anmerkungen (Wikisource)