Mein erster Lehrmeister in der alt-germanischen Mythologie

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Autor: Karl Blind
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Titel: Mein erster Lehrmeister in der alt-germanischen Mythologie
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 51, S. 858–859
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[858] Mein erster Lehrmeister in der alt-germanischen Mythologie. Es sind nun schon viele Jahre her, da traf ich einmal mit einem jungen Bauernburschen zusammen, der recht aufgeweckt war, wie es der fränkische Stamm der Rheinpfälzer zumeist ist, auch eine gute Schule durchgemacht hatte, mich aber durch ein absonderliches Stück Aberglauben in großes Erstaunen versetzte.

„Sehen Sie“ – sagte er in einem beinahe geisterhaften Tone, und sein Gesicht nahm dabei einen erschrockenen Ausdruck an – „sehen Sie! man kann Alles über die Zukunft erfahren: wie es in der Welt zugehen wird, und wie Eins auf das Andere folgt. Nur muß man ein Mittel gebrauchen, das ich nicht anwenden möcht’, und gewiß, lieber Herr, wollen auch Sie es nicht thun!“

Ich vermuthete sofort, daß es sich um irgend ein Zaubermittel handle, dessen Gebrauch nach abergläubischer Volksmeinung Den, der es anwendet, der Hölle zuführt, und ich erwiderte dem jungen Bauern: „Nun, lassen Sie einmal sehen, vielleicht wende ich es doch an!“

In noch schreckhafterem Tone, als zuvor, raunte er mir darauf zu:

„Wenn eine Person am Oster-Sonntag rückwärts zur Kirchenthür herausgeht und dabei ein Zeichen von Verachtung macht; und wenn die Person währenddem ein Ei zwischen den Fingern hält und durch dasselbe schaut und zugleich laut lacht, so sieht sie die Zukunft und Alles, was kommt, in dem Ei! Aber, um Gotteswillen, lieber Herr, Sie dürfen’s nicht thun, und Sie werden’s nicht thun; denn es geht um die Seel’! Und ich thu’ es gewiß nicht!“

Ich konnte mich des Lachens nicht erwehren und dachte: wenn mir je eine ganz sinn- und inhaltslose Thorheit vorgekommen ist, so ist es diese wunderbare Eiergeschichte. Einen Augenblick hatte ich den Burschen sogar in Verdacht, er sei im Grunde ganz aufgeklärt und wolle nur einem Städter schwankweise Eins aufbinden. Ich fand jedoch nachher heraus, daß es ihm heiliger Ernst mit seinem Aberglauben war und daß er in Furcht schwebte, mein Seelenheil könnte durch Vornehmen einer solchen kirchenwidrigen Eierschau Schiffbruch leiden.

Bis dahin hatte ich mich wohl schon mannigfach mit alt-deutscher Dichtung und Volkssagen beschäftigt. Auch waren mir von Kindheit an die Märchen in lebendigster Weise bekannt geworden, nämlich durch den Mund der im Hause dienenden Mädchen vom Lande, die sie getreu dem Knaben so erzählten, wie ich sie später in der Grimm’schen Sammlung las. Gleichwohl vermochte ich beim ersten Hören jenes „bäurischen Unsinns“ nichts Anderes darin zu entdecken, als eben eine platte Abgeschmacktheit.

[859] Theils eingehendere Studien, theils bloße Zufälligkeiten führten mich später darauf, da einen tieferen Zusammenhang und eine Bedeutung zu erkennen, wo anfänglich nichts als tölpelhaftes Kauderwälsch vorhanden zu sein schien. In den gründlichen, mit Fleiß und Liebe zum germanischen Alterthum entworfenen Werken unserer Forscher sind heute die Beweise in Menge zusammengehäuft, daß der angebliche bäurische Unsinn rückführbar ist auf eine zu ihrer Zeit nicht bloß großartig gedachte, sondern auch mannigfach mit Schönheit gezierte Götter- und Heldensage und heidnische Weltanschauung, deren einzelne dichterische Fabeln ebensowohl eine Bedeutung haben, wie etwa die griechische Märe von dem als goldener Regen herabsteigenden Zeus. Der Sinn der Dichtung mag oft durch überreiche Bildnerei, durch eine in’s Wilde gewachsene, aller kritischen Zähmung entronnene Poesie überwuchert und verdeckt sein. Aber daß ein Sinn dahinter steckt, daran zu zweifeln ist heute nur dem Unwissenden und dem über die ganze Vorzeit wegwerfend Absprechenden noch möglich.

Nun denn, was jenen Bauernburschen anlangt, so fand ich, daß er unbewußter Weise der Besitzer eines recht bemerkenswerthen Bruchstückes germanischer Mythologie war. Richtig verstanden, enthielt dasselbe in roher, mystischer, verballhornisirter Form eine uralte Andeutung der Keim-Lehre, zu welcher gegenwärtig die meisten Männer der Wissenschaft halten. Das Ei ist das Sinnbild des Keimes überhaupt. Im Ei erblickten unsere heidnischen Vorväter ein Zeichen des Wachsthums, der allmählichen Entwickelung und Aufeinanderfolge der Dinge. Indem man durch das Ei schaute, erlangte man daher, bildlich verblümt gesprochen, eine Ahnung und einen Vorblick des zukünftigen Ganges der Ereignisse.

Warum aber wählte man den Oster-Sonntag für die Zauberei, die jenen Bauernburschen so ängstigte?

Weil in grauer Vorzeit, um Ostern hin, ein germanisches Frühlingsfest zu Ehren der Göttin Ostara oder Eostra gefeiert ward, von deren Namen das jetzt bei den deutschen Christen gebräuchliche Wort „Ostern“ herzuleiten ist, einer Göttin, die als Vertreterin der fruchtbar machenden Sonne und der zeugenden Naturkräfte das Ei zu ihrem Sinnbilde hat. Daher kommen ja die jetzt noch gebräuchlichen Oster-Eier. Auch der Hase, den man mit naturgeschichtlicher Ketzerei diese Eier legen läßt, muß der Ostara geheiligt gewesen sein. Seine bekannte Fruchtbarkeit ließ ihn leicht zu einem Sinnbild dieser Göttin werden, wie andrerseits das Marienkäferchen wegen seiner blitzrothen Farbe, der deutschen Liebesgöttin Freia geheiligt war, aus dem himmlischen Reich die Seelen der Ungeborenen im leuchtenden Strahl erdwärts zu führen, um dort verkörpert zu werden.

Was sollte indessen, um der Angabe des abergläubischen Bauernburschen weiter zu folgen, das Rückwärtsgehen, wenn man an Ostara’s Tag die Kirche verließ?

Es bedeutete, daß die Person, welche es that, das Antlitz nach Osten kehrte, wo die Göttin wohnte. Das Zeichen der Verachtung, welches man nach dem christlichen Altar hin zu machen hatte, um der Zauberkraft theilhaftig zu werden, sollte andeuten, daß derjenige, welcher diese spöttische Geberde annahm, sich für den Augenblick vom Christenthum abwandte und zum Heidenglauben zurückging. Auf diese Weise erlangte man die Macht, an dem der Frühlingsgöttin geweihten Tage in dem zwischen den Fingern gehaltenen Ei den Keim aller Dinge zu schauen, ihre Entwickelung in „zweitem Gesicht“ zu ahnen, und so ein Bild der Zukunft zu gewinnen!

Es blieb noch das Lachen übrig. Warum sollte man am Oster-Sonntag, wo das Ei als Hexenspiegel diente, laut lachen?

Hier fand ich, daß dieser Ausbruch der Heiterkeit das Lächeln der Natur im Frühling bedeutete – wie wir ja auch von „lachenden Gefilden“ reden. Bei heidnischen Osterfesten stellte augenscheinlich ein Lach-Chorus dies Lächeln dar. Noch in der Kirche des Mittelalters, Jahrhunderte nach dem Sturz der alten Wodan-Religion, hatte der Priester am Oster-Sonntag seiner Gemeinde zuerst etwas Lustiges zu erzählen, und dann in ein Lachen auszubrechen, welches man das „Ostergelächter“ nannte!

Indem ich so das Eine zum Andern fügte, aus anscheinend werthlosen Bruchstücken mir eine Form zusammensetzte, gewann ich allmählich die immer fester werdende Ueberzeugung, die sich zuletzt zur Gewißheit herausbildete, daß in jenem drolligen Aberglauben eine naturphilosophische Ansicht verborgen lag. In alter Heidenzeit mag irgend ein weiser Mann – ein „Ewart“, „Gudja“, „Weiha“ oder „Sinisto“, wie die Priester unter verschiedenen germanischen Stämmen hießen – dieser Ansicht in feinerer Weise gehuldigt haben. Die Wissenden kannten sie vielleicht in besserer, ihnen vertrauterer Gestalt. Zu der ungebildeten Masse kam sie in vergröberter bildlicher Ausschmückung, und verlor für sie allmählich ihren Sinn und Zusammenhang. Von den Indern, den Aegyptern, den Griechen, den Römern sind wir sicher, daß neben oder hinter der äußerlichen Lehre eine solche innere Geheimlehre stand. Daß bei unseren Vorfahren etwas Aehnliches stattfand, ist kaum mehr zu bezweifeln. Hinter dem nebelhaften Aberglauben eines Dörflers entdecken wir, auf eine Entfernung von vielleicht zwei Jahrtausenden, eine Ansicht, die enge Verwandtschaft hat mit der modernen Pasteur’schen Theorie!

Hat man einmal einen solchen Schlüssel gewonnen, so fühlt man größeres Interesse nicht bloß an duftigen Feen-Märchen, in welchen die Figuren der alten Heidengötter noch erkennbar sind, sondern auch an grob abergläubischen Gebräuchen, in denen man manchmal recht überraschende Gedanken vergangener Geschlechter lesen kann. Klar wird Einem dann auch, daß es vergeblich ist, mit bloßer Spötterei gegen solchen Aberglauben anzukämpfen, denn das Volk hängt an ihm oft mit einer Zähigkeit, als fühle es, daß in dem scheinbaren „dummen Zeug“ ein verzauberter poetischer Schatz enthalten ist, der nur der Wünschelruthe des Kundigen harrt.

Eine wissenschaftlich, aber liebevoll gehaltene Behandlung dieser letzten Ueberbleibsel urgermanischer Weltanschauung vermag allein den Aberglauben gründlich zu besiegen. Ist dem Volke einmal der Einblick in eine solche Behandlung eröffnet – und die Grundlagen dafür könnte man fast spielend in jeder Dorfschule legen –, so werden die Nebel der Unwissenheit sich zerstreuen, der dichterische Werth aber der Sagen nicht bloß, sondern auch der abergläubischen Gebräuche und sogar manchen finsteren Spukes den Augen Aller erschlossen und damit Großes für die allgemeine Bildung gewonnen.

London.Karl Blind.