Nach dem Urteil (Theodor Lessing)

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Textdaten
Autor: Theodor Lessing
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Titel: Nach dem Urteil
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aus: Prager Tagblatt, 6. Februar 1931, S. 3-4
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 1931
Erscheinungsdatum: 1931
Verlag: Heinrich Merch Sohn
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Erscheinungsort: Prag
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Originalherkunft:
Quelle: ANNO und Scan auf Commons
Kurzbeschreibung: Gerichtsreportage
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[3] Theodor Lessing:

Nach dem Urteil

Berlin Nord. Drontheimer Straße. Eine fahle seelenlose Straße, die endlos den Wedding verbindet mit dem neuerdings eingemeindeten Reinickendorf. Die großen Fabrikgebäude der A.E.G. beherrschen die Straße. Von hier aus hat das elektrische Licht den Siegeszug angetreten über die ganze von Menschen bewohnte Erde, und ein Goldstrom ist hierher zurückgekehrt. Hier war das Stammhaus von Emil und Walther Rathenau. Die Bewohner dieser Häuserwüste vegetieren im Dunkel. Sie verspüren nichts von dem Goldstrom. Kleine jämmerliche Geschäfte locken mit billigem Auslagekram. Die Kinder auf der Straße haben blasse, verhungerte Gesichter und rachitische Glieder. Frühgealterte, verkrümmte Hausmütter kommen mit Beuteln am Arm und besorgen ihre armseligen Einkäufe. Arbeitslose Burschen lungern herum. Hier gibt es nur Arbeitslose. Von den Fassaden bröckelt der Stuck; der Anstrich der Häuser ist verschlissen, und durch die Portale blickt man in graue, leere Höfe. Abends brennt auf den zertretenen Stiegen das magere Oellämpchen oder der Kerzenstumpf. Die Treppen sind schmutzig. In diesen Kasernen, Loch neben Loch, schmachten die Armut und die Sehnsucht in hundertfachen Verwandlungen. Gleich am Anfang der Straße steht über einem kleinen Laden die Firma-Inschrift zu lesen: „Uhren-Reparaturwerkstatt”. Das war der Laden des Uhrmachers Ulbrich. Ein kauziger, einsamer, aber gutherziger Sonderling; saß von morgens sieben bis in die Dämmerung über seinen Uhrwerken, verdiente spärlich und steckte, was er verdiente, ins Ledersäckchen und schloß das Ledersäckchen in den wurmstichigen Sekretär. Er hatte eine schlimme Schwäche, der verschrobene Kauz: „Kleine Mädchen“. Das wußten alle halbwüchsigen Blagen in den hungrigen Mietskasernen. „Beim Onkel Ulbrich bekommt man Schokolade”. Oder er sagt: „Paß nen Augenblick auf den Laden” und läuft nebenan in die kleine Warenhandlung und kauft Keks oder Obst. Aber den größeren Mädchen zeigt er Photographien. Die sammelt er. Verfängliche Aktbilder und die Bilder der berühmten Filmköniginnen. Er hat viele Hundert. Die holt er hervor und beginnt komische Reden. Die Mädchen kichern, verstehn alles und denken doch nichts dabei. Und auch die Alten denken nichts. In diesen Zinskasernen denkt keiner über den andern. Jeder hat genug mit sich selbst zu tun. Da kann auch ein Unhold sein schlimmes Wesen treiben. Der Ulbrich war noch nicht der schlimmste. Und alle Frauen klatschten und die Männer fluchten, als man den Sonderling im Hinterraum des Ladens ermordet fand. Wer war der Täter? Drei verwahrloste Kinder verübten die Tat. Zwei Jungen und ein Mädel. Und es ist wohl gar nicht zu sagen, in welchem der sehnsüchtigen und überstiegenen Seelchen zuerst der Mordplan ausgeheckt wurde und ob es überhaupt ein klarer und richtiger Mordplan war, den sie „ausbaldowerten“, die drei, die sich bald nach der Tat täppisch verrieten und dann gegenseitig beschuldigten. Richard Stolpe, Erich Benzinger und Lieschen Neumann sind die Namen der Kinder, die Jungen anfangs zwanzig, das Mädchen, das als Hochschwangere vor Gericht stand, ist sechzehn Jahre alt. Der Fall ist ganz einfach und verbarg keinerlei Rätsel.

Deutschland hat vier Millionen Arbeitslose. Auch diese drei lungerten arbeitslos, oft stumpf vor Hoffnungslosigkeit, oft hungrig und immer abgerissen und brauten in den Hinterhöfen und Torgängen blöde und kluge Pläne, wie man zu Geld kommen könne und durch Geld zu gutem Essen und schönerem Kleid. Lieschen Neumann „ging“ mit Stolpe, ein Kerl wie Molnars Liliom. Das heißt ein wirklich gutherziger Kerl, dem aber die Armut saß an der Stelle wo sonst das gute Herz sitzt. Und im übrigen ein brutaler und wie alle Brutalen auch sentimentaler Bursche. Wenn er getrunken hat, aufbrausend und ein Prahlhans, aber am Morgen kleinlaut, stumpf, kaduk. Sein Handgelenk saß locker. Wenn Lieschen nicht parieren wollte, wenn sie dem Schatz nicht zu Willen war, dann setzte es Ohrfeigen. Aber grade darum mochte sie ihn gern, weil er so männlich tat und sie Angst vor ihm hatte, und er so tat, als könne er ihr das geben und ersetzen, was sie nie hatte: einen Willen. Der andere, ihr Nebenfreund, Erich war ein Schlemihl, ein guter Trottel. Der konnte nie Nein sagen, dachte „reine gar nichts“ und „machte nur so mit“. Die Treibkraft bei der schlimmen Tat war Richard, die Intelligenz Lieschen und Erich das schwache Instrument. Die Sache entwickelte sich grauenhaft einfach, natürlich und roh. In der Nacht hockte Lieschen bei den verbummelten Jungen und entwickelte den Plan. „Dabei kann Euch nichts passieren. Dabei kann keiner verschütt gehn. Der Ulbrich, die putzige Kruke, ist hinter mir her. Verliebt wie ein Zinshahn. Versteckt euch unters Bett. Ich mache ihn ganz verrückt. Wenn ich mit ihm im Bett liege, dann raus mit Euch, dann räumt den Laden aus. Ich sorge schon, daß er still ist.“ Man spielte mit Gedanken an Raub, und man erntete Mord. Das mußte kommen. Als „ganze Arbeit“ gemacht werden mußte, blieb Lieschen die kälteste und kuragierteste. Sie forderte die Jungen auf, das Beil zu brauchen und tat auch selbst mit. Die Beute war armselig. Lumpige dreißig Mark. Die ganze Sache war armselig. Berlin machte sich daraus eine Sensation. Psychiater, Neurologen gaben Erklärungen und Gutachten ab. Doktor Sidney Mendel, Modeanwalt von Berlin W und seiner bekanntesten Theaterdirektoren und Prominenten, verteidigte überscharf und überbegabt den Stolpe. Justizrat Davidsohn, der sich als Vorsitzender der Anwaltkammer selbst zum Offizialverteidiger ernannte, verteidigte das Lieschen. Bewunderungswürdig überlegen lenkte der Vorsitzende Doktor Schmitz den Prozeß. Was war denn nun eigentlich aus dem Prozesse zu lernen? Stolpe, arbeitslos und verbummelt und von Lieschen auf die schlimme Fährte gebracht, war Kutscher. 32 Arbeitskollegen, die ihn gut kannten, haben eine rührend ungeschickte Petition an den Gerichtshof gesandt. Er sei immer hilfsbereit und anständig zu den Kollegen und immer gut zu den Pferden gewesen, überhaupt ein tadelloser Junge. Lieschen aber habe sich auf den Rummelplätzen [4] herumgetrieben, habe schon als Vierzehnjährige mit Männern zu tun gehabt, habe ihn verführt. Dergleichen stimmt und stimmt wieder nicht. Dieser Stolpe, verstockt und bockig, war zweifellos der Schuldigste von den dreien, weil er wenigstens einige Ansätze zu einem Charakter und zu Verantwortlichkeit aufwies. Er wußte schließlich als der reifste was ein Totschlag bedeutet. Lieschen wußte es nicht. Aber alle Gedanken des rohen Burschen waren schief eingestellt. Er kam aus dem schlechtesten „Miljöh“. Er war verkracht mit Vater und Brüdern. Der Vater, ein übler Rowdy und Trinker, ist über die Tat des Sohnes weniger entrüstet als über den Umstand, daß der Junge, um nach Pommern zu fliehn, seinen alten Mantel mitgenommen hat. Wegen Diebstahl dieses Mantels zeigt er den Sohn an und belastet ihn vor Gericht. Ein Bruder, der 1914 wegen Raubüberfalls zu langer Zuchthausstrafe verurteilt war, starb im Zuchthaus. An der früh verstorbenen Mutter haften seine sentimentalen Gefühle. Er äußert in der Haft immer wieder den Wunsch, ihr Grab noch einmal besuchen zu dürfen. Eine Schwester tritt als Zeugin für den Bruder ein. Sie ist tiefunglücklich, daß sie drei mitgebrachte Apfelsinen ihm nicht geben darf. Er verteidigt sich dumm und ungeschickt. War es wohlüberlegter Mord, war es ein Totschlag? Stolpe erzählt, Lieschen seine Braut habe versprochen, sich mit dem Uhrmacher nicht intim einzulassen. Sie wolle tun, als ob sie schläfrig sei und ihn bis zum nächsten Morgen vertrösten. Der Landgerichtsdirektor: „Und dann?“ Stolpe: „Wir sagten uns das geht nicht.“ Der Landgerichtsdirektor: „Warum nicht?“ Stolpe: „Na, weil der Mann dann nicht mehr ist.“ – Kann ein Angeklagter, der um den Kopf kämpft, sich dummer hereinlegen? – Hat er Lieschen Neumann, die sein Kind trägt, geliebt? Ja, gewiß. „Sie wollte ja so gern ein neues Kleid haben.“ Das wurde ihm ein Beweggrund zum Morden. Nicht der einzige. Er wollte auch gerne vor der Braut als ganzer Mann sich beweisen. Er prahlte gern, wie er gern Ohrfeigen ihr gab. Der andere Junge Erich Benzinger hatte keine heilen Schuhe mehr. Man versprach ihm das Geld für ein Paar Stiefel, da war er bereit mitzutun, aber als die drei am Tage nach dem Morde ins Kino gingen, da mußte er sich sogar die Mark Eintrittgeld von ihnen leihen.

Aus dem Lieschen Neumann haben die Journale ein dämonisches Weib gemacht. „Die Greta Garbo des Wedding.“ Ach, zehntausend solche Mädchen schweifen auf dem Asphalt. Jede kann heute oder morgen zu solcher Tat kommen. Das menschlichste Wort, das klügste vielleicht im ganzen Prozeß, sprach eine alte Lehrerin, welche Lieschen Neumann unterrichtet hatte und nun als Zeugin vernommen, sich selber anklagte, daß sie nicht in der Lage gewesen sei, den Kindern eine bessere Stütze zu sein. „Ich habe mal das Wort eines Gefangenen gelesen, das lautete so: ‚Gefallen seid Ihr? Ja und nein.‘ Das Wort ist interessant. Wie kann denn der gefallen sein, der niemals stand?“ Diese selbe Lehrerin erzählt, daß sie mit der Klasse drei Tage am Werbellinsee war und hinterher den Kindern aufgab, daß sie aufschreiben sollten, was auf sie am meisten Eindruck gemacht hätte. Einige schrieben wohl von Wasser und Schwimmen und Kahnfahrt, aber übereinstimmend lautete der Bescheid: „Daß wir jede ein Bett für uns hatten.“ Es ist gar nicht zu sagen, ob dies Mädchen schuldig oder unschuldig, gut oder böse ist, und erst recht nicht, ob das Urteil gerecht ist, denn es gibt da kein gerechtes Urteil. Ja man muß eigentlich bedauern, daß für solche Prozesse ungeheure Gelder verbraucht werden, statt daß man sie für Brot und warme Strümpfe verwendet. Man sollte solche Entgleiste sogleich in irgendeine Anstalt stecken; es gibt da gar nichts zu richten. So ein Dirnchen wirft kein Ziel über die Stunde hinaus, hat keine Leidenschaften, hat weder große Liebe noch großen Haß. Auch den Gemordeten hat sie weder geliebt noch gehaßt und hätte ihm ebenso gern geheiratet wie getötet. Sie wußte nur, daß sie lange nichts Warmes gegessen hatte und daß sie ein schlechtes Kleid trug und daß in den Delikatessenläden am Kurfürstendamm und in den Modehäusern der Leipziger Straße alle Herrlichkeiten der Welt im Schaufenster liegen und der putzige alte Ulbrich, der so schrecklich verliebt tut, einen Lederbeutel mit Geld hat und daß der Lederbeutel dort in der Schublade liegt, im Sekretär. Eines ist grauenhaft: Eine werdende Mutter wird vor das Kriminalgericht gestellt. Es müßte uns Gebot sein: Nie darf judifiziert werden, solange die Angeklagte nicht entbunden hat. So durfte in Hellas nicht gerichtet werden, „so lange das heilige Schiff noch auf dem Wasser ist“. Oder … ach ja, man sollte solche Kinder gar nicht zur Welt kommen lassen. Wir aber morden die Ungeborenen, wir schädigen sie tiefer als jemals die zur Welt Geborenen einander schädigen können. In dem Buche eines jungen Juristen, Friedrich Meß, „Nietzsche als Gesetzgeber“, fand ich eine denkwürdige Stelle über das östliche Rechtswesen. Die exterritorialen Gerichte der Europäer im Fernen Osten wollten den Chinesen und Japanern dadurch imponieren, daß sie möglichst streng und oft bestraften, und sie ahnten gar nicht, daß sie gerade dadurch sich vor der andersartigen Ethik des Ostens als Barbaren erwiesen. Denn nach der Meinung der Ostasiaten ist die Anzahl der Verbrechen ein negatives Maß für die Güte der Rechtspflege, und man kann dort sogar den Richter verantwortlich machen, wenn bestimmte Delikte häufig vorkommen. Denn, so wie die Aerzte nicht dazu da sind, ausgebrochene Krankheiten zu heilen, sondern es eigentlich ihre Aufgabe ist, zu verhindern, daß Krankheiten ausbrechen, so ist die Rechtspflege nicht dazu da, um Verbrechen zu bestrafen, sondern um zu verhüten, daß sie geschehen. Es ist auch nichts damit getan, daß wir ein Kultusministerium haben, welches die Beförderung und Versorgung der Professionalen verwaltet, sondern die ganze Aufgabe eines Erziehungsministers müßte sein, dafür zu sorgen, daß dem Volke keine Talente verloren gehen, daß nicht etwa die Begabtesten und Besten verkümmern oder lebenslang um bloße Duldung kämpfen müssen. Und wenn in einem großen Volke vier Millionen Menschen arbeitslos sind, ohne daß die Regierung dem abhelfen kann, dann ist die Regierung verantwortlich für die Morde und Mordprozesse, die im Lande erlitten werden.