Nervöse Leiden

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Autor: Dr. J. Schwabe
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Titel: Nervöse Leiden
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aus: Die Gartenlaube, Heft 25, 26, S. 422–424, 430–432
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nervöse Leiden.
Von Dr. J. Schwabe.


„Meine Nerven, meine Nerven! Ach, wenn ich doch keine Nerven hätte!“ Wie oft hört man diese Klage und diesen Wunsch aussprechen, der sich jedoch glücklicher Weise nie erfüllt, denn besser schlechte Nerven als keine – man müßte denn ganz und gar auf seine Existenz verzichten. All unser Denken, Fühlen und Wollen kommt nur vermittelst der Thätigkeit des Gehirns zu Stande, und diese gelangt zu selbstständiger Entwickelung nur durch die Nerven, welche die Vermittelung zwischen dem Gehirne und der Außenwelt bilden und ihm die zur Erweckung seiner Thätigkeit nöthigen Reize zuführen. Ohne Nerven wären wir gedanken- und gefühllose Materie. Leider aber functionirt der wunderbare Apparat, den wir Nervensystem nennen, in Folge krankhafter Vorgänge bisweilen sehr unregelmäßig, und es tritt dann u. A. auch jener Leidenszustand ein, für welchen man noch keinen besseren Namen, als krankhafte Nervosität, Nervenschwäche und dergleichen gefunden hat. Wir beabsichtigen, hier die Erscheinungen, die Ursachen und die Mittel zur Heilung dieses Leidens zu besprechen. Es dürfte dies um so mehr an der Zeit sein, als die Nervosität zu den großen Plagen unseres Zeitalters gehört, in zunehmender Häufigkeit auftritt, das Glück nicht nur der Kranken, sondern auch ihrer Familien dauernd und empfindlich stört und leider nur selten mit den richtigen Mitteln energisch bekämpft wird.

Die an Nervosität Leidenden gehören zu denjenigen Kranken, welche der größten Theilnahme bedürftig sind und doch leider dieselbe meist in viel geringerem Maße finden als andere Kranke. Die meisten Menschen, welche sich eines gesunden Nervensystems erfreuen, wollen dem Leiden des nervösen Patienten gar nicht die Berechtigung einer eigentlichen Krankheit zugestehen; sie halten seine Klagen für Uebertreibung kleiner Uebel und meinen wohl gar, der Kranke finde eine Art von Vergnügen darin, seine Umgebung damit zu langweilen und zu quälen, während doch die Leiden, über welche er klagt, wirkliche und oft recht schwer zu tragende sind, wenn auch Uebertreibung und Mangel an Geduld oft mit unterläuft.

In der bei weitem großen Mehrzahl der hierher gehörigen Fälle sind die Leidenden weiblichen Geschlechts, weshalb in diesen Zeilen von Patientinnen die Rede sein soll. Freilich giebt es [423] auch nicht wenig nervöse Männer, für die das Meiste gleichfalls gilt, was hier von der Nervosität gesagt werden wird.

Die Erscheinungen, in welchen sich die krankhafte Nervosität ausspricht, sind so mannigfaltig, daß auch auf die allernervöseste Dame nur ein verhältnißmäßig kleiner Theil derselben kommt, aber jede nervöse Patientin kann in der nachfolgenden Darstellung ihren Theil herausfinden.

Fast alle nervöse Kranken leiden an gesteigerter Empfindlichkeit und an Schmerzen der verschiedensten Art. Am häufigsten sind Kopf- und Rückenschmerzen. Auch kolikartige Leibschmerzen sowie Schmerzen in den Gelenken, besonders im Hüft- und Kniegelenk, sind nicht selten. Die Sinnesnerven, und zwar am häufigsten die des Gehörorgans, nehmen sehr oft Theil an der erhöhten Reizbarkeit der übrigen Nerven und entwickeln dann manchmal eine erstaunliche Schärfe der Wahrnehmung, die stets für die Kranke peinlich ist.

Sehr mannigfaltig sind auch die Krankheitserscheinungen im Bereiche der Bewegungsnerven, und zwar nach beiden Extremen hin. Einerseits findet man oft einen wahren Widerwillen gegen alle Bewegung, welcher schließlich so weit geht, daß die Kranken das Bett nicht verlassen, ja nicht einmal die Hand zum Munde führen mögen, so daß sie gefüttert werden müssen. Es ist dies die Folge der bei Nervösen so häufig vorkommenden Hemmung des Willenseinflusses auf die Bewegungsnerven. Wird durch einen starken psychischen Einfluß, wie Schreck oder Furcht, der Wille plötzlich gewaltsam angeregt, so können die scheinbar ganz gelähmten Kranken oft alle Bewegungen, zu denen sie vorher unfähig waren, ungehindert ausführen. Es fehlt nicht an Beispielen, daß solche Kranke, die monate- und jahrelang gelähmt im Bette lagen, durch eine plötzlich eintretende Gefahr, z. B. bei einer Feuersbrunst, für den Augenblick so schnell von ihrer Lähmung befreit wurden, daß sie behende aus dem Bette sprangen und auf und davon liefen. Man würde diesen Kranken sehr unrecht thun, wenn man ihre Lähmung für Verstellung hielte. – Andererseits kommen die verschiedenartigsten Krampfzufälle vor. Am häufigsten sind Convulsionen der Arme und Beine, Zittern der Glieder und des ganzen Körpers, Schluchzen, krampfhaftes, unzähliges Wiederholen einzelner Worte und dergleichen mehr. Diese Symptome tretet bald ohne bemerkbare Veranlassung, bald auf den unbedeutendsten Anlaß hin ein; oft genügt dazu schon die leichteste ärgerliche Erregung, das Hören eines unangehmen Geräusches.

In der Verdauungssphäre kommen gleichfalls mancherlei Störungen vor, die theils auf krampfhaften Zusammenziehungen der Muskelfasern in der Speiseröhre und im Darmcanal beruhen, theils auf fehlerhafter Function der Darm- und Magendrüsen. In ersterer Beziehung ist die Empfindung eines im Halse steckenden Pflockes (globus hystericus) zu erwähnen, in letzterer Appetitlosigkeit, unregelmäßige Ausleerung und namentlich Ansammlung von Gasen, die oft einen sehr hohen Grad erreicht.

Die Theilnahme der Athmungsorgane an dem allgemeinen Leiden zeigt sich durch beschleunigtes Athmen, Erstickungsgefühl, Lach- und Weinkrämpfe, peinlichen nervösen Husten und ähnliche Zufälle.

Wir schließen unsere des beschränkten Raumes wegen nicht bis in alle Einzelheiten ausgeführte Darstellung des Krankheitsbildes, indem wir die wichtigste Symptomengruppe der Nervosität, nämlich die Beeinträchtigung der psychischen Functionen, etwas näher besprechen. Fast ausnahmslos leidet das Willensvermögen. Mehr als andere Kranke sind die nervös Kranken geneigt, sich widerstandslos ihrem Kranksein hinzugeben. Die wenigen noch vorhandenen Willensäußerungen sind fast nur negativer Art. Selten heißt es: „ich will“, um so öfter: „ich will nicht“. „Raffe dich auf, nimm dich zusammen!“ mahnt die Umgebung, mahnt der Arzt. Doch. „Ich möchte ja so gern, aber ich kann nicht!“ ist die Antwort. Aber nicht nur der Wille in seiner allgemeinen psychischen (moralischen) Beziehung ist geschwächt, sondern auch sein Einfluß auf die der willkürlichen Bewegung dienenden Nerven. Daher jene Abneigung der Nervösen gegen alle körperliche Bewegung und gegen jede mit letzterer verbundene Beschäftigung.

Die Intelligenz wird durch das nervöse Kranksein selten direct gestört. Mittelbar aber leidet sie insofern sehr oft, als die Patientin aufhört, außer dem, was ihren Zustand betrifft, noch geistige Interessen zu hegen, um so unerschöpflicher sind die Kranken im Grübeln über ihre Leiden und in der Beschreibung derselben. Bewegen sich die Gedanken lange Zeit ausschließlich in einem so eng beschränkten Kreise, so ist eine gewisse geistige Verödung die natürliche Folge. Kommen dagegen wieder andere Interessen zum Vorschein, so ist dies eines der willkommensten Zeichen eintretender Genesung.

Ebenso regelmäßig wie das Willensvermögen der Nervösen leidet auch das Gemüth. Das ist in so hohem Grade der Fall, daß oft eine durch die Krankheit bedingte völlige Auswechselung der Persönlichkeit vorzuliegen scheint. Diese Auswechselung erfolgt, wie bekannt, nie nach der vortheilhaften Seite hin. Im Anfang der Krankheit zeigt sich Reizbarkeit, Neigung zu übler Laune, unmotivirter und rascher Wechsel zwischen trauriger und heiterer Stimmung, Abneigung gegen die gewohnten Beschäftigungen. Die Reizbarkeit nimmt mehr und mehr zu; die üble Laune wird vorherrschend und geht in tiefen Mißmuth über. Die Kranke beschäftigt sich fast ausschließlich mit ihrer Krankheit und giebt sich in Bezug auf dieselbe den trübsten hoffnungslosen Gedanken hin. Das Bedürfniß, der peinlichen, gedrückten Stimmung Luft zu machen durch Aussprechen gegen Andere und bei ihnen Theilnahme und Trost zu finden, ist fast allezeit vorhanden. Leider aber werden die Angehörigen der Kranken gegen die immer wiederkehrenden Klagen mit der Zeit gewöhnlich gleichgültig und selbst ungeduldig, und so tritt zu den wirklichen Leiden der Nervöskranken auch noch das bitter verletzende Gefühl, bei ihrer Umgebung keine Theilnahme zu finden, und regt die Kranke immer zu neuen Klagen an, womit sie das Interesse ihrer Umgebung zu gewinnen wünscht, und hier finden wir auch das leicht erklärliche und entschuldbare Motiv zu den Uebertreibungen, denen sich manche Kranke schuldig machen. Aus dem brennenden Wunsche, Mitleid und Interesse zu erwecken, gehen bisweilen die wunderlichsten Ausschreitungen hervor. Man hat hochnervöse Kranke beobachtet, welche sich insgeheim schmerzhafte Verwundungen beigebracht haben, lediglich aus dem genannten Motiv.

Zu jener tiefen, oft an wahre Melancholie grenzenden Verstimmung gesellen sich oft noch andere Symptome, aus denen auf Störung der Gehirnthätigkeit zu schließen ist. Dazu gehören Schwindelanfälle, Schlaflosigkeit, Schlafsucht und Hallucinationen (Sinnestäuschungen). Der Kranke glaubt Dinge wahrzunehmen, welche nicht existiren; er empfindet Gerüche, sieht Gestalten, hört Geräusche, die für andere Menschen nicht wahrnehmbar sind. Auch dürfen wir nicht unerwähnt lassen, daß Nervöskranke bisweilen äußerst lebhaft und zusammenhängend träumen, im Schlaf aufstehen, gewohnte Verrichtungen ausführen und laut sprechen. Man nennt diesen Zustand bekanntlich Somnambulismus. Die Somnambulen kann man in ehrliche und unehrliche eintheilen. Die ersteren sagen und thun nichts weiter, als wozu sie im wachen Zustande auch befähigt sind. Die letzteren dagegen produciren sich als „hellsehende“, mit besonderen Fähigkeiten extra begabte Wesen, die im Schlaf Anschauung und Kenntniß von Dingen haben, welche im wachen Zustande ihrer Erkenntniß nicht zugängig sind. Diese Kategorie der Somnambulen, ohne alle Abnahme, geht auf bewußte Täuschung aus, und zwar in der Regel aus dem stillen, aber dringenden Wunsche, sich interessant zu machen. Bis jetzt ist es noch in jedem Falle solcher wunderbaren schlafkünstlerischen Productionen, wo eine sachverständige und scharfsinnige Kritik die Sache näher untersuchte, gelungen, die geplante Täuschung nachzuweisen.

Die mit der Nervosität verbundene Schädigung der psychischen Functionen bildet die wichtigste und bedenklichste Seite der Krankheit. Alle andern Symptome derselben, so peinlich sie sein mögen, bringen sehr selten eine unmittelbare Gefahr mit sich. Wohl aber liegt in weit entwickelten Krankheitsfällen die Möglichkeit vor, daß das psychische Leiden sich zu einem selbständigen, zu einer eigentlichen Gemüthskrankheit entwickeln werde.

So mannigfache Leiden, wie die der eben beschriebenen Krankheit zu schildern, erfordert etwas reichlichen Aufwand von dunkeln Farben. Dafür aber sollen diejenigen Leser, die im Vorstehenden das Spiegelbild ihrer Leiden erblickt haben, am Schluß dieser Mittheilungen das finden, wonach ihr Herz sich so sehr sehnt: Trost und Hoffnung, Hoffnung darauf, den rechten [424] Weg zu finden aus dem Labyrinth ihres vielgestaltigen Leidens. Doch bevor wir die Mittel zur Bekämpfung der Krankheit besprechen, ist es in der Ordnung, die Ursachen derselben kennen zu lernen.

Noch vor wenigen Decennien pflegte die Heilwissenschaft die krankhafte Nervosität schlechthin als das Product einer allgemeinen Functionsstörung der Nerven zu betrachten, womit genau dasselbe gesagt ist, als wenn man die Functionsstörung der Nerven als das Product der krankhaften Nervosität ansieht. Dieser vagen Anschauung entsprach die Behandlung. Man hatte ein reiches Arsenal von „Nervenmitteln“, wie Baldrian Asa fötida, Kampher, Castoreum etc. Diese Mittel vermögen allerdings einzelne nervöse Beschwerden vorübergehend zu mildern, aber eine Heilung der Krankheit selbst ist durch sie wohl schwerlich jemals herbeigeführt worden. Die naturwissenschaftliche Methode, welcher die neuere Medicin folgt, begnügt sich nicht mit allgemeinen Begriffen und Phrasen, sie sucht auf dem Wege der exacten Untersuchung dem Wesen der Krankheit zu Leibe zu gehen. Nicht nur unsere Erkenntniß der Krankheiten ist dadurch wesentlich gefördert worden, sondern auch unsere Fähigkeit, dieselben zu heilen, wenn auch der weiteren Forschung und Erfahrung noch sehr viel zu thun übrig bleibt. Gewiß ist, daß der krankhaften Nervosität stets eine materielle Veränderung in der Substanz der Nerven oder des Gehirns oder des Rückenmarks – oft bei allen dreien zugleich – zu Grunde liegt. Wie diese krankhaften Veränderungen zu Stande kommen, ist noch nicht genügend erforscht worden.

Ohne Zweifel haben wir es am häufigsten mit Störungen in der Ernährung der Nervensubstanz zu thun. Die Nerven, das Hirn und das Rückenmark bedürfen, um gehörig functioniren zu können, des ununterbrochenen gesunden Stoffwechsels ebenso sehr wie alle anderen Organe. Besitzt das Blut nicht seine normalen Mischungsverhältnisse, wie z. B. in der Bleichsucht, so wird der normale Stoffwechsel im Gehirne und in den Nerven und hiermit die Function dieser Organe beeinträchtigt. Wir sehen daher die krankhafte Nervosität entstehen in Folge der verschiedensten Momente, welche eine Verschlechterung des Blutes bedingen, z. B. durch Mangel an Bewegung im Freien, längeren Aufenthalt in (besonders durch Kohlensäure) verdorbener Luft, fehlerhafte Diät und dergleichen mehr. Andererseits werden Erkrankungen der Nerven durch Ursachen erzeugt, die ohne Zweifel gleichfalls krankhafte Verändernden in den stofflichen Verhältnissen der Nerven bewirken, während das Zustandekommen dieser Veränderungen weit schwieriger zu erklären ist, als bei den einfachen Ernährungsstörungen. Dahin gehören die nervösen Ueberreizungen und gewisse psychische Einflüsse. Von ersteren sind die sexuellen Ueberreizungen als sehr häufige und gefährliche Ursachen der Nervosität zu nennen; ferner zu große geistige Anstrengungen, besonders im Kindesalter, und der häufige Genuß aufregender Vergnügungen, namentlich wenn diese bis spät in die Nacht hinein dauern. Auch übermäßig betriebene Clavierübungen, wie sie große und kleine Wunderkinder, und die es werden wollen, sich auferlegen, sind hier zu nennen. Die musikalischen Conservatorien zu X. und Y. haben dem Verfasser schon manchen Patienten mit recht schweren Formen der Nervosität geliefert. Die krankmachenden psychischen Einflüsse werden wir näher besprechen.

Erwähnen wir jedoch hier, abgesondert von den anderen Ursachen, einen oft vorkommenden Krankheitszustand, der in der Regel mit beträchtlichen nervösen Störungen verbunden ist. Wir meinen die bei so vielen Patientinnen vorkommenden Lage- und Texturveränderungen gewisser Unterleibsorgane. In allen Fällen, wo eine Vermuthung hierfür vorliegt, säume man nicht, den Rath eines tüchtigen Facharztes (Gynäkologen) in Anspruch zu nehmen, was an dieser Stelle gesagt sein möge, um im weiteren Verlaufe dieser Mittheilungen eine unliebsame Wiederholung zu vermeiden.

Von der größten Bedeutung sind die mannigfachen ursächlichen Momente, welche schon in der Kindheit den Keim zur Entstehung der Nervosität legen. Es ist kaum glaublich, wie so manche Eltern geradezu darauf auszugehen scheinen, ihre geliebten Sprößlinge nach Möglichkeit reif und empfänglich für den Complex von Plagen, den wir Nervosität nennen, zu machen und sie einem an den besten Freuden armen Leben entgegen zu führen. Hier setzt ein unverständiger Vater sein achtjähriges Töchterchen, das soeben mit müdem Rücken von dreistündigem Sitzen auf der harten Schulbank und in der kohlensäurereichen Luft der Schulstube nach Hause kommt, noch eine volle Stunde an das siebenoctavige Marterholz, statt den armen Wurm hinaus in Gottes freie Luft zu schicken, damit die steif gesessenen Glieder sich wieder rühren und die kleine Brust wieder den frischen Lebensbalsam einathmen könne. Dort sehen wir eine thörichte Mutter, welche ihrem Kinde bei Zeiten maßlose Ansprüche einimpft, welche das Leben nie erfüllen wird. Wenn irgend möglich, wird jedem noch so unvernünftigen Wunsche des Kindes gefröhnt, und wo dies nicht möglich ist, wird es bedauert und vertröstet. Das arme Kind wird blasirt, noch ehe es die Kinderschuhe ausgezogen hat, und den Blüthen und Früchten, welche ihm das Leben bieten wird, im Voraus der Duft und Geschmack genommen. Während der oben genannte strafwürdige Vater sich ein bleichsüchtiges, energieloses Wesen großzieht, ist es hier die unvernünftige Mutter, welche ihr Kind verhindert, entsagen zu lernen und seine Willenskraft zu üben. Denn der Eigensinn, welchen sie ihrem Kinde anerzieht, ist von Willenskraft so verschieden, wie die Verneinung von der Bejahung, wie das Mundverziehen des von Leibweh geplagten Säuglings von dem glücklichen Lächeln des sich freuenden gesunden Kindes. Wir haben oben die Schwächung des Willens als ein wichtiges und charakteristisches Symptom der Nervosität angegeben. Es leuchtet ein, wie sehr dieser Krankheit durch eine verweichlichende und verwöhnende Erziehung vorgearbeitet wird, welche schon an und für sich, ohne Zuthun der Krankheit, die Ausbildung eines energischen Willensvermögens verhindert.

Nicht bloß in der fehlerhaften Erziehung, sondern auch in der „höheren Töchterschule“ werden die Keime des späteren Siechthums gelegt. Das tägliche fünf- bis sechsstündige Sitzen in der Schulstube möchte noch angehen, vorausgesetzt, daß dieselbe der Schülerzahl entsprechend geräumig und gut ventilirt ist, und daß zwischen zwei Stunden zehn freie Minuten sind. Aber wenn das Kind, statt nach der Schule sich reichlich Bewegung im Freien zu machen, eine Menge Aufgaben mit nach Hause bringt, zu deren Bewältigung kaum die Zeit ausreicht, so entsteht aus dieser Ueberanstrengung eine Ueberreizung und darauf folgende Ermüdung des Gehirns, welche oft aus munteren, Geist und Leben sprühenden Kindern für lange Zeit traurige, schlaffe Schlafmützen macht oder sie den hundertfachen Plagen der Nervosität überliefert. Und ist denn das, was durchschnittlich erreicht wird, der an Gesundheit und jugendlichem Frohsinn gebrachten Opfer werth? Es ist unvernünftig, das Gehirn der jungen Mädchen mit Kenntnißbrocken aus einer Menge wissenschaftlicher Disciplinen zu bestürmen. Es gehört ein sehr starker geistiger Magen dazu, um diese Fülle von Lernstoffen zu verdauen und nützlich zu verarbeiten. Bedenkt man dazu, daß in der Regel diese didaktische Nudelung mit dem sechszehnten oder siebenzehnten Lebensjahre plötzlich aufhört, und daß an ihre Stelle das Lesen von Romanen, Conversation über Bälle und Theater und dergleichen tritt, so braucht man sich nicht zu wundern, wenn von den mühsam erworbenen ästhetischen, culturgeschichtlichen, chemischen und anderen Eroberungen bald nur noch einzelne dürftige Bruchstücke von zweifelhaftem Werthe vorhanden sind.

In den späteren Lebensperioden machen mehrfache psychische Einwirkungen sich bei Hervorbringung oder Beförderung der krankhaften Nervosität geltend. Es ist eine interessante Thatsache, daß keineswegs die deprimirenden Gemüthsaffecte im Allgemeinen diese Wirkung haben, sondern nur eine ziemlich beschränkte Kategorie derselben. Getäuschte Hoffnungen, Gefühle vermeintlicher oder wirklicher Zurücksetzung, Kummer über verfehlten Lebenszweck – das ist der fruchtbare Boden, auf welchem die Nervosität vortrefflich gedeiht.

[430] Wir dürfen diesen Abschnitt nicht schließen, ohne noch mit einigen Worten der Verstöße zu gedenken, welche gegen die gesundheitsgemäße psychische Diät („geistige Ernährung“) sehr häufig begangen werden, und im Vereine mit anderen Schädlichkeiten die Entstehung der Nervosität befördern. Das Gehirn, welches wir ja doch als Urquell, Regulator und Rückflußreservoir aller Nerventhätigkeit zu betrachten haben, bedarf nicht nur gesunder materieller Ernährung durch das ihm zugeführte Blut, um gesund functioniren zu können, es gehört dazu auch, daß seine Thätigkeit in geeigneter Weise geübt werde. Aber damit, meine geehrten Damen, sieht es bei sehr vielen unter Ihnen wirklich schlimm aus. Ich rede nicht von den wackeren Hausfrauen, deren Verstand, Gemüth und Willensvermögen durch umsichtige Führung des Haushaltes und durch die Sorge für die Erziehung ihrer Kinder hinreichend geübt wird, wenn ihnen auch keine Zeit für geistige Beschäftigung im engeren Sinne des Wortes übrig bleibt. Ich rede von den jungen und älteren Damen, die viele freie Zeit übrig haben und dieselbe mit nichts ausfüllen, was einer ernsten, nützlichen, die geistige Ausbildung fördernden Beschäftigung ähnlich sieht.

Statt einer energischen geistigen Anregung geben sich Viele dem übertriebenen Romanlesen hin, welches den Geist verweichlicht, ihm eine ungesunde träumerische Richtung giebt. Von Zeit zu Zeit einen guten Roman zu lesen, ist ja eine angenehme und selbst anregende Unterhaltung; nur das Uebermaß ist schädlich. Noch eine andere Art der Lectüre, welcher heutzutage recht häufig gefröhnt wird, muß ich aus ärztlicher Erfahrung als höchst schädlich für Alle, die zur Nervosität und Gemüthsverstimmung incliniren, bezeichnen. Es sind dies die dicken, mit zehn oder zwanzig verschiedenen belletristischen Journalen gefüllten Mappen, welche allwöchentlich aus den selbst in den kleinsten Städten zu findenden Journalcirkeln den Familien zugetragen werden. Ist auch ein gutes Journal ohne Zweifel ein gutes Bildungs- und Bindungsmittel am Familientische, so ist doch leicht einzusehen, daß die zehn oder zwanzig verschiedenen Inhalte, auf einmal oder kurz nacheinander genossen, ein Ragout bilden, welches unmöglich eine gesunde geistige Nahrung gewähren kann. Solche Lectüre zersplittert, zerstreut und überreizt, statt den Geist zu sammeln und zu stärken und seine Weiterbildung zu fördern.

Der Frage, wie die Nervosität zu heilen sei, möchte wohl manche Kranke, die See- und andere Bäder, Mineralwasser-, Stahl- und andere Curen und einen Arzt nach dem anderen vergebens gebraucht hat, die mit wenig Vertrauen ausgesprochene andere Frage vorausschicken: ob es denn überhaupt möglich sei, von einmal ausgebildeter Nervosität befreit zu werden? Hierauf antworten wir, gestützt auf vieljährige und reichliche Erfahrung: in jedem, auch dem schlimmsten Falle, ist Besserung der vorhandenen Leiden, und in den meisten Fällen ist Heilung zu erreichen. Nur gehört Geduld und Ausdauer dazu. Immer aber ist es leichter, Krankheiten zu verhüten, als sie zu heilen. Besprechen wir zunächst, wie diese Aufgabe zu lösen ist, deren wichtigster Theil der Erziehung anheimfällt.

Väter und Mütter, Ihr könnt Euern Kindern Eure Liebe durch nichts besser erweisen, als wenn Ihr ihnen vom ersten Lebensjahre an eine in leiblicher wie in geistiger Beziehung etwas harte Erziehung gebt. Der Ausdruck hart ist nicht mißzuverstehen; es soll damit lediglich das Gegentheil von Allem, was geistig und körperlich verweichlicht, bezeichnet werden.

Die Kost des Kindes sei einfach, leicht verdaulich und nahrhaft. Je näher dem ersten Lebensjahre, um so ausschließlicher bestehe sie aus Milch, dem vollkommensten aller Nahrungsmittel. Ganz entgegen dem bornirten Geschwätze alter Fraubasen, die da behaupten, das Kind, das kaum laufen gelernt hat, müsse von Allem mitessen, was auf den Tisch kommt (wodurch dicke Bäuche und dünne, krumme Beine und andere Symptome der Scrophulose erzeugt werden), ist es eine wahre Freude, ein in der Fülle von Kraft und Gesundheit blühendes Kind zu sehen, welches weit über das erste Jahr hinaus ausschließlich mit guter Milch genährt worden ist. Alle aufregenden Getränke, wie Bier, Wein, Kaffee etc. sind zu vermeiden. An dem Volksglauben, daß die Kinder durch Kaffeetrinken grillig und unartig werden, ist etwas Wahres. Schädlich ist der Genuß von Leckereien, wozu jedoch das Obst nicht zu rechnen ist. Sie verderben die Verdauung und die Zähne und schaden überdies dadurch, daß sie das Kind verwöhnen. Ebenso wichtig wie gesunde Kost ist der häufige und reichliche Genuß der freien Luft und tüchtige Bewegung in derselben. In den ersten Lebensmonaten ist das Kind täglich in Wasser von 28 bis herab zu 25 Grad Réaumur Wärme zu baden. Nach dem ersten Lebensjahre muß mit dieser Temperatur ganz allmählich herabgegangen werden bis auf 15° und noch weniger, aber das Wasser von dieser kühleren Temperatur ist nicht als Bad, sondern in der Form von täglichen Abwaschungen des ganzen Körpers zu appliciren. Daneben ist der wöchentlich einmalige Gebrauch eines warmen Bades von [431] 25 bis 26°, welches nicht länger als fünfzehn Minuten genommen werden darf, höchst wohlthätig. Endlich noch machen wir darauf aufmerksam, das für den kindlichen Organismus reichlicher Schlaf dringendes Bedürfniß ist. Im Allgemeinen sind für ein vier- bis sechsjähriges elf, für ein sieben- bis zehnjähriges zehn, für ein elf- bis vierzehnjähriges neun Stunden Schlaf nöthig.

Nicht minder wichtig ist der geistige (moralische) Theil der Erziehung. Man erziehe das Kind nicht so, daß es verleitet werde, seiner kleinen Person eine besondere Wichtigkeit beizulegen und sich als den Mittelpunkt zu betrachten, um den sich die ihm bekannte Welt dreht. Man suche zeitig das Gefühl in ihm zu wecken, daß es Pflichten hat, man gewöhne es an Gehorsam, man lehre das Kind entsagen! Nichts stärkt besser als dies die Willenskraft, und ein starker Wille ist oft für sich allein im Stande, der Nervosität vorzubeugen.

Die oft wiederholte ärztliche Mahnung, den Geist des Kindes nicht zu frühzeitig anzustrengen, muß auch hier wiederholt werden. Die in den meisten deutschen Ländern mit dem sechsten Lebensjahre eintretende Schulpflichtigkeit ist ein großer Mißgriff. Man sollte kein Kind vor vollendetem siebenten Lebensjahre zur Schule schicken. Schwächliche und nervösreizbare Kinder müssen noch länger geschont werden.

Die nämlichen Principien, welche wir für die Kindererziehung als Abwehr einer späteren Entstehung der Nervosität aufgestellt haben, gelten im Allgemeinen auch für die weiteren Lebensperioden, natürlich mit den den veränderten Verhältnissen entsprechenden Modificationen, so namentlich, daß der erwachsene Mensch seine Erziehung selbst in die Hand zu nehmen hat.

Soviel von der Art und Weise, wie der Nervosität vorzubeugen ist. Und nun, Ihr viel duldenden Kreuzträgerinnen, die Ihr der schlimmen Krankheit bereits anheimgefallen seid, laßt Euch sagen, wie Eueren Leiden abzuhelfen ist! Kein Kraut ist es und keine Tinctur, die aus der Officin des Apothekers hervorgehen, kein Hoff’sches Malzextract ist es und keine Nervenpillen sind es, die Euch wieder zur Gesundheit verhelfen können. Nur in der vernünftigen, gesundheitsgemäßen Weise, wie Ihr Euer ganzes Leben einzurichten habt, liegt das Heil. Aber hier bedarf es unumgänglich des festen Entschlusses, auszudauern und consequent zu sein. Denn wenn auch oft schon in wenigen Wochen eine merkliche Besserung erreicht wird, so gehört doch viel längere Zeit dazu, um dieser Besserung Dauer zu geben, und die wirkliche Genesung herbeizuführen.

Die vier großen Mittel, welche (selbstverständlich bei Vermeidung der früher genannten Schädlichkeiten) in allen Fällen krankhafter Nervosität Besserung und in den meisten bei lange fortgesetztem Gebrauche die Genesung herbeiführen sind:

  1. Zweckmäßige Ernährung, mit Einschluß des Genusses der freien Luft.
  2. Die äußerliche Anwendung des Wassers in Form von Abreibungen und Bädern.
  3. Uebung der willkürlichen Muskeln (körperliche Gymnastik).
  4. Psychische Gymnastik.

Zu 1. Es ist bereits oben hervorgehoben worden, wie wichtig für die Gesundheit des Nervensystems und seiner Centren die Bethätigung des normalen Stoffwechsels durch zweckmäßige Ernährung ist. Die Regelung derselbe ist die nächste Aufgabe für Nervenleidende. Also kräftige, leichtverdauliche und einfache Kost! Obenan steht die Milch in Verbindung mit anderen guten Nährstoffen, wohin weichgesottene oder rohe Eier, gebratenes Fleisch, besonders Wildpret, Ochsen- und Hammelfleisch gehören. In manchen Fällen ist eine sogenannte Milchcur von gutem Erfolge. Personen, welche die Milch nicht vertragen können, lernen dies oft, wenn sie dieselbe eßlöffelweise langsam verzehren. Als Getränk ist (außer Milch und Wasser) vielen Patienten ein Glas gutes Lagerbier zu empfehlen. Von höchster Wichtigkeit ist der möglichst reichliche Genuß der freien Luft, besonders auf dem Lande in waldigen Gegenden. Wenn es Jahreszeit und Wetter irgend erlauben, muß die Kranke den größten Theil des Tages im Freien zubringen. Wer so muskelschwach ist, daß er nicht gehen und längere Zeit sitzen kann, der lasse sich im Freien ein Ruhebett aufstellen oder eine Hängematte zurecht machen, um in bequemer Lage die frische Luft zu athmen. Ich kann versichern, daß ich schon einzig und allein in Folge des dauernden Aufenthaltes im Freien, verbunden mit der geeigneten Diät, bei sehr vielen meiner nervösen Kranken binnen kurzer Zeit eine wesentliche Besserung des leidenden Zustandes habe eintreten sehen.

Zu 2. Erwägt man, daß der größte Theil der zahllosen feinsten Verzweigungen der Nerven sich in der unsern ganzen Körper umkleidenden Haut verbreitet, so leuchtet es ein, daß durch eine rationelle Hautpflege normirend auf das Nervensystem gewirkt werden kann. Wir rechnen daher das Wasser zu unseren vier Cardinalnervenmitteln. In welcher Weise aber und in welchem Temperaturgrade das Wasser anzuwenden ist, muß stets sorgsam erwogen werden. Im Allgemeinen gelten folgende Regeln: Bei Blutarmuth und bei großer Schwäche sind kalte Bäder und Waschungen nachtheilig. Dagegen sind warme Bäder von 25 bis 28 Grad Réaumur und einviertelstündiger Dauer, wöchentlich zwei- bis dreimal genommen, bei dergleichen Kranken sehr wohlthätig. Bei nervösen Kranken, die weder blutarm noch sehr schwach sind, leisten tägliche Abwaschungen des ganzen Körpers mit kühlem Wasser vortreffliche Dienste. Anfangs nimmt man dazu Wasser von 20 bis 22 Grad und fällt allmählich auf 15, 12 und 10 Grad. Die Abwaschung wird mit einem in das Wasser getauchten und um den Körper geschlagenen Laken vorgenommen. Dann wird der Körper kräftig mit einem trockenen Laken abgerieben. Die ganze Procedur darf nur fünf Minuten währen. Hierauf werden die Kleider angelegt und ein kurzer Spaziergang im Freien, oder bei schlechtem Wetter auf dem Corridore, vorgenommen. Nach der Abreibung darf man sich nicht etwa gleich wieder in’s Bett legen. In manchen Fällen sind auch Fluß- und Seebäder nützlich, worüber jedoch ärztlicher Rath zu hören ist. Stets ist es gut, neben dem täglichen Gebrauche des kalten Wassers wöchentlich einmal ein warmes Bad zu nehmen.

Zu 3. Von der wohlthätigsten Wirkung ist die Uebung der willkürlichen Muskelthätigkeit, nur darf man Kranken in dieser Beziehung nicht Aufgaben zumuthen, zu deren Ausführung ein gesunder, kräftiger Körper gehört. Die Hauptregel ist, daß die Kranken sich nie bis zur wirklichen Ermüdung anstrengen dürfen. Erst nach längerer Uebung und bei Wiederkehr der Kräfte dürfen z. B. weitere Spaziergänge gewagt werden. Wo die Rücksicht auf große Schwäche nicht nöthig ist, da ist natürlich möglichst ausgiebige Bewegung in der freien Natur nützlich. Neben den Spaziergängen, und wenn diese nicht stattfinden können, als Ersatz derselben, sind gymnastische Muskelübungen von ausgezeichneter Wirkung, aber nur, wenn sie consequent und systematisch täglich vorgenommen werden.

Die Zimmergymnastik ist heutzutage zu einer eigenen Disciplin herangewachsen. Ich habe bei meinen Kranken die von Schreber in seinem bekannten Buche gegebenen Anweisungen befolgt und sehr guten Erfolg gesehen. Nur ist auch hier jede größere Anstrengung zu vermeiden. Die Uebungen sind anfangs auf täglich wenige Minuten zu beschränken und allmählich ihre Zahl und Dauer zu erhöhen. In keinem Falle bin ich über das tägliche Maß einer Stunde hinausgegangen.

Zu 4. Im Anschluß an die körperliche Gymnastik nennen wir das vierte Cardinalmittel psychische Gymnastik. Denn wie dort, gilt es auch in psychischer Hinsicht, einer täglich zu wiederholenden Uebung sich zu unterziehen, aber mehr noch als dort bedarf es hier der geduldigen Ausdauer. Die Nervöskranke versuche es zunächst, sich der tyrannischen Herrschaft, welche die Krankheit über sie ausübt, täglich auf einige, wenn auch nur kurze Zeit zu entziehen, indem sie während derselben, ich möchte sagen, sich gesund stellt, von ihrer Krankheit nicht spricht, irgend eine kleine Beschäftigung vornimmt und diese Uebung von Zeit zu Zeit ein wenig, wenn auch nur um einige Minuten verlängert. Ich höre schon den Einwurf, daß es unmöglich sei, auch nur auf kurze Zeit sich dem Krankheitsgefühle zu entziehen. Aber ich versichere, daß es bei gutem Willen öfter und besser gelingt, als man denkt. Mit kleinen und langsamen Schritten gelangt man auch zum Ziel. „Was aber soll ich thun,“ wird Manche fragen, „um meinen Willen zu üben und mich von der Herrschaft der Krankheit zu emancipiren?“

Die Antwort liegt sehr nahe. Die Kranke führe pünktlich und gern alle die Vorschriften aus, welche wir soeben unter 1, 2 und 3 besprochen haben. Darin liegt schon eine Uebung [432] der Willenskraft, und wenn wir das Wörtlein „gern“ beifügten, so liegt darin, daß man der üblen Laune widerstehen, daß also die Selbstbeherrschung geübt werden soll, die ein so wichtiges Mittel zur Heilung der Nervosität ist, daß der berühmte Romberg ihr und der Uebung der willkürlichen Muskelthätigkeit den Preis vor allen andern „Nervenmitteln“ zuerkennt. Mag also der Widerwille gegen Spazierengehen oder gymnastische Exercitien, gegen Abwaschungen oder gegen einzelne diätetische Vorschriften noch so groß sein, so muß er doch tapfer überwunden werden. Das mag im Anfang schwer sein, aber auch nur im Anfang, bald wird es ganz gut gehen. Sodann gewöhne sich die Kranke, von ihren Leiden nur im wirklichen Nothfall zu sprechen und sich mit ihrer Umgebung von etwas anderem zu unterhalten, wenn sie auch zur Zeit für gar nichts weiter Interesse hat als für ihre Krankheit. Dadurch werden ihre Gedanken allmählich sich aus dem Zauberkreise befreien, der sie bisher so eng umstrickte. An Augenblicken, wo der Geduldsfaden zu reißen droht und die Kranke sich versucht fühlt, wieder in die alten Klagen auszubrechen, wird es nicht fehlen, aber um so mehr Mühe gebe sie sich, Selbstbeherrschung zu üben. Der auf der Höhe des Leidens stets vorhandene Krankheitsegoismus wird sich mehr und mehr verlieren, das eine und andere Interesse aus früheren gesunden Tagen wird wiederkehren. Und nun wird die Zeit kommen, wo die Kranke eine leichte Beschäftigung aufzunehmen vermag, nützlich für sie selbst, und dreifach nützlich, wenn sie auch Anderen zu gute kommt. Bei der Einen mag dies leichte belehrende Lectüre, bei der Andern häusliche Beschäftigung, bei der Dritten beides zugleich sein. Dabei sei man vorsichtig in der Vornahme weiblicher Handarbeiten. Stricken, Weißsticken und Nähen ist nachtheilig, weil es die empfindlichen Nervenverzweigungen in den Fingerspitzen angreift und leicht einen starken Reflexreiz erzeugt.

Das sind die ersten, allerdings für Viele sehr schweren Schritte auf dem Wege zur Genesung. Wenn dabei auch der gute Wille der Patientin die Hauptsache ist, so ist doch nicht zu leugnen, daß derselbe oft nicht kräftig genug ist, um mit der nöthigen Consequenz jenen Weg zu wandeln, wenn die Umgebung der Kranken ihr nicht eine stete feste und wohlwollende Stütze und Anregung gewährt. In vielen Fällen, wo die Krankheit, besonders nach der psychischen Seite hin, weit vorgeschritten ist, macht es sich nöthig, daß die Kranke sich aus den gewohnter Verhältnissen entfernt und in neue begiebt, wo sie nicht nur die Bedingungen für ihre körperliche Kräftigung vorfindet, sondern auch in eine neue Umgebung eintritt, die andere Gedanken und Anschauungen in ihr erweckt, als die bisherigen eng begrenzten, und ihre Selbstbeherrschung anregt. Ein Landaufenthalt in waldiger, bergiger Gegend, wo die besänftigende Natur, ländliche Ruhe und das Beisammensein mit Menschen, welche der Kranken in ihrem Genesungsbestreben verständig rathend und aufmunternd zur Seite stehen, vereint zu finden sind, wird die Genesung am nachdrücklichsten fördern. Dagegen wirkt das ganz verkehrte Herumziehen auf Reisen und in Bädern fast immer schädlich. Selbstverständlich sind in letzterer Beziehung die übrigens nicht häufigen Fälle ausgenommen, in denen der Gebrauch eines Mineralbades nach ärztlichem Ermessen ganz bestimmt angezeigt ist.

Und wer sich der wiedererlangten Gesundheit freut und einen sicheren Schutz gegen die Wiederkehr der überwundenen Krankheit haben will, der gebe seinem Leben Kern und Gehalt durch Thätigkeit, und zwar durch Nutzen bringende Thätigkeit.