Oberappellationsgericht München – Wählerversammlung

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Autor: Oberappellationsgericht München
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Titel: Mittheilung oberstrichterlicher Erkenntnisse
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aus: Amtsblatt des K. Staatsministeriums des Innern, Königreich Bayern, Band 1878, Nr. 29, Seite 334–337
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Kurzbeschreibung: Wählerversammlungen genießen besonderen Schutz
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[334]

Der oberste Gerichtshof des Königreichs erkannte am 27. September 1878 im Strafverfahren gegen den Metallschlägergesellen N. N. von L. wegen Übertretung des Vereinsgesetzes zu Recht:

1. Das Urtheil des k. Bezirksgerichtes A. vom 16. August d. J. wird vernichtet;
2. N. N. wird unter Belastung der k. Staatskasse mit den Kosten des Strafverfahrens von der gegen ihn erhobenen Anschuldigung freigesprochen;
3. das gegenwärtige Urtheil ist in das Urtheilsbuch des k. Bezirksgerichts A. einzutragen.
Gründe.

Der Metallschlägergehilfe N. N. aus L., welcher in öffentlichen Blättern behufs Besprechung der damals bevorstehenden [335] Reichstagswahl zu einer am 29. Juni d. J. in L. abzuhaltenden und sodann auch wirklich abgehaltenen Wählerversammlung eine allgemeine Einladung erließ, ohne bei der Ortspolizeibehörde die im Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes über Versammlungen und Vereine vom 26. Febr. 1850 vorgeschriebene Anzeige zu erstatten, ist deshalb durch Urtheil des k. Landgerichtes F. vom 24. Juli d. J. wegen Uebertretung des so eben genannten Gesetzes zu einer Geldstrafe von 18 ℳ., eventuell zu einer Haftstrafe von 6 Tagen sowie zu den Kosten des Strafverfahrens und Strafvollzuges verurtheilt worden. Als hierauf eine gegen dieses Urtheil von dem Beschuldigten erhobene Berufung durch Urtheil des k. Bezirksgerichtes A. v. 16. August d. J. unter Verurtheilung des Beschwerdeführers zu den Kosten 2. Instanz verworfen worden war, meldete N. N. noch am Tage der Urtheilsverkündung auf der bezirksgerichtlichen Gerichtsschreiberei Nichtigkeitsbeschwerde an, weil er nicht von der wider ihn erhobenen Anschuldigung freigesprochen wurde.

Nach Vortrag des Referenten in der öffentlichen Sitzung des obersten Gerichtshofes begründete der Staatsanwalt den Antrag:

1. das Urtheil des k. Bezirksgerichtes A. vom 16. August d. J. zu vernichten,
2. N. N. von der erhobenen Anschuldigung unter Ueberbürdung der Kosten auf das Staatsärar freizusprechen,
3. die Eintragung des zu erlassenden Urtheiles in das bezirksgerichtliche Urtheilsbuch anzuordnen.

Dieser Antrag wurde bei der nach Art der Beschwerde-Anmeldung veranlaßten allgemeinen Prüfung der Sache begründet gefunden.

Der § 17 des für das Königreich Bayern durch königliche Deklaration vom 30. Januar 1871 verkündeten Wahlgesetzes für den Reichstag vom 31. Mai 1869 bestimmt im Abs. 1, daß die Wahlberechtigten das Recht haben, zum Betriebe der den Reichstag betreffenden Wahlangelegenheiten Vereine zu bilden und in geschlossenen Räumen unbewaffnet öffentliche Versammlungen zu veranstalten, fügt jedoch im Absatze 2 bei, daß die Bestimmungen der Landesgesetze über die Anzeige der Versammlungen und Vereine sowie über die Ueberwachung derselben unberührt bleiben sollen.

Hiernach sind also in Bezug auf die Anzeigepflicht bei Abhaltung von Vorversammlungen zum Zwecke der Reichstagswahl nur die Landesgesetze maßgebend.

Nun verpflichtet zwar Art. 2 Abs. 1 des für Bayern am 26. Februar 1850 über Versammlungen und Vereine erlassenen Gesetzes denjenigen, der zu einer Versammlung, in welcher öffentliche Angelegenheiten erörtert werden sollen, öffentliche oder allgemeine [336] Einladungen erläßt, zu einer mindestens 24 Stunden vor dem Beginne der Versammlung unter Angabe des Ortes, der Zeit und des Zweckes derselben bei der Ortspolizeibehörde zu erstattenden Anzeige, und wird die Unterlassung einer solchen Anzeige durch Art. 20 des genannten Gesetzes mit Strafe bedroht.

Nach Art. 26 des Vereinsgesetzes findet jedoch die im Art. 2 enthaltene Bestimmung keine Anwendung auf die durch das Gesetz oder durch die gesetzlichen Autoritäten angeordneten Versammlungen sowie auf die Vorberathungen von Mitgliedern dieser Versammlungen während der Dauer ihrer Sitzungen, sodann auf Wahlversammlungen der Wahlmänner und Urwähler für den Landtag, die Kreis- oder Gemeindevertretung nach erlassenem Wahlausschreiben.

Der Entwurf des Vereinsgesetzes hatte ursprünglich die im Art. 26 ausgesprochene Begünstigung den Wahl-Vorversammlungen der Wahlmänner und Urwähler für den Landtag und den Landrath zugedacht. Im Gesetzgebungs-Ausschusse wurde aber auf Antrag des Referenten an der Stelle der Worte „und den Landrath“ die Einschaltung der Worte „die Kreis- und Gemeindevertretung“ beschlossen, weil man auch die Beisetzung der Vorversammlungen für Gemeindewahlen als nothwendig erachtete, dabei in Rücksicht auf die Revision des Gemeindeediktes die Ausdrücke „Kreis- und Gemeindevertretung“ wählte und hierunter die allenfalls zu bildende Distriktsgemeinde gleichfalls verstanden wissen wollte.

Nach den Motiven zu dem erwähnten Gesetzentwurfe hatte die Bestimmung im Art. 26 die Bedeutung und den Zweck, daß die in demselben erwähnten Versammlungen und unter diesen auch die vorbereitenden Versammlungen Wahlberechtigter in den Wahlperioden von allen beengenden Vorschriften des Vereinsgesetzes befreit würden, damit selbst der Schein einer Beschränkung der Wahlfreiheit oder der zur Vertretung des Landes oder seiner Theile berufenen Körper vermieden bleibe.

vgl. Verh. d. K. d. Abg. i. J. 1849 – Beil. Bd. I S. 177 u. 178, Beil. Bd. III S. 35, 45 u. 46.

Der Art. 26 a. a. O. hat also unter Anderem dem Grundsatze gesetzliche Geltung verliehen, daß die Wahlberechtigten, wenn nach Maßgabe obrigkeitlicher Anordnung eine Wahl für einen politischen Vertretungskörper, sei es im Gemeinde- oder im Distrikts- oder im Kreis- oder im Landes-Verbande bevorsteht, bei den zum Zwecke der Vorbereitung der Wahl stattfindenden Versammlungen an die Bestimmungen des Vereinsgesetzes nicht gebunden sind. Dieser Grundsatz nöthigt aber zu der sicheren Folgerung, daß derselbe, falls sich zur Zeit der Erlassung des Vereinsgesetzes [337] die politische Vertretung der Landesangehörigen schon zu einer Vertretung im Reichs- Verbande erweitert gehabt hätte, auch auf die zur Vorbereitung der Reichstagswahl bezüglichen Versammlungen ausgedehnt worden wäre, da jener Grundsatz seiner inneren Natur nach diesen jetzt gegebenen Fall mit umschließt.

Obschon daher Art. 26 a. a. O. Wahlversammlungen für den Reichstag nicht erwähnt und bei einer im Jahre 1850 mangelnden Volksvertretung am deutschen Bunde nicht erwähnen konnte, hat doch die gedachte Gesetzesbestimmung gemäß der ihr zu Grunde liegenden gesetzgeberischen Absicht, daß die Vorbesprechung einer obrigkeitlich angeordneten Wahl für die politische Repräsentation der Landesangehörigen von allen beschränkenden Maßregeln freigehalten werden soll, auch auf die vorbereitenden Wahlversammlungen der Wähler für den Reichstag analoge Anwendung zu finden.

Im vorliegenden Falle hat aber eine auf dem Grundsatze des Art. 26 a. a. O. beruhende Analogie auch im Bereiche der strafrichterlichen Thätigkeit kein Bedenken gegen sich, da hiebei die Analogie nicht dazu verwendet wird, eine Strafbestimmung auf einen Fall auszudehnen, für welchen dieselbe im Gesetze nicht vorgesehen war.

vgl. auch „Hugo Meyer, Lehrb. des dtsch. Strfr.“ 2. Aufl. § 19 S. 102–105.
Merkel in „v. Holtzendorff’s Handbuch des dtsch. Strfr.“ Bd. II S. 76–79.

Nachdem nun N. N. den Feststellungen der Instanzgerichte gemäß zu einer am 29. Juni d. J. wegen der damals bevorstehenden Reichstagswahl in L. abzuhaltenden Wähler-Versammlung und zwar jedenfalls zu einer Zeit eingeladen hat, als das am 12. Juni d. J. zu Berlin ausgegebene Reichsgesetzblatt die Auflösung des Reichstages bereits verkündet und die Vornahme der Wahlen zum Reichstage angeordnet hatte, so kann N. N. in Anbetracht der mehrerwähnten Bestimmung im Art. 26 a. a. O. deshalb, weil er eine vorherige Anzeige von der abzuhaltenden Wählerversammlung bei der Ortspolizeibehörde zu machen unterließ, als straffällig nicht erachtet werden. Das Urtheil des k. Bezirksgerichts A. vom 16. August d. J. hat daher, indem es den Beschuldigten gleichwohl verurtheilte, die Art. 2 Abs. 1 und 20 des Vereinsgesetzes durch unrichtige Anwendung sowie den Art. 26 desselben durch Nichtanwendung verletzt, weßhalb im Hinblick auf Art. 138 Ziff. 3 des Einf. Ges. v. 10. Nov. 1861, wie geschehen, zu erkennen war.