Ohne Führer

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Autor: Heinrich Noé
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Titel: Ohne Führer
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aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 314–316
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Ohne Führer.

Von Heinrich Noé.

Im Thale von Tiers, welches sich östlich von Bozen durch das rotbranne verwitterte Porphyrgestein gegen den „Rosengarten“ hineinzieht, steht die anmutige und bescheidene Herberge „Zur Rose“. Man befindet sich hier an einer der ergreifendsten Stellen des Landes Tirol. Schaut man zu den Fenstern hinaus, so erblickt man nicht nur in nächster Nähe die starren, bleichen Dolomite, sondern erkennt auch fern am westlichen Himmel den Langgrubenferner und die Weißkugel der Oetzthaler Gletscherwelt. Will man die Wirksamkeit dieses Eindrucks noch steigern, so mag man sich daran erinnern, daß vor vielen Jahrtausenden hier blaues Meer flutete, Schaumstreifen umgaben damals runde Riffe, aus der Tiefe empor ästelte sich das Gewirre der Korallen, Polypen strebten gegen die Oberfläche der Salzwellen. Da waren Inseln, wie die „Atolle“ der Südsee, in welche zum Teil von der Flut Sturmlücken eingebrochen waren. Auf Kalkschlamm und glasigen Bruchstücken der Madreporen hingen triefende Algen und hoben und senkten sich mit den Wellen.

Dieses Schaustück boten einmal die nämlichen Dolomite, welche jetzt im Abendglanz wie glühende Kohlen leuchten.

Von der Gesellschaft, welche an einem Sommerabend dort versammelt war, hatten nur wenige – und das waren vorzugsweise die älteren – eine wirkliche Fähigkeit, sich in den Geist zu versenken, der hier weht. Die einen schwiegen, indem sie die Wolkenkronen um den nahen „Rosengarten“ und das ferne Eis betrachteten, die andern aber sprachen von allerlei Muskelkunststücken, so daß man sich in die Vorhalle eines Cirkus hätte versetzt fühlen können. Der eine hatte die Fünffingerspitze bei Schneesturm „gemacht“, der andere allein eine Nebelnacht auf einem Zacken von dreitausend Metern zugebracht und wäre ohne Zweifel später erfroren oder verhungert, wenn sich der Nebel nicht am nächsten Tage verzogen hätte. Die Fünffingerspitze ist gewiß hoch, aber nicht so hoch wie die Höhe, von welcher jene „Fachmänner“ auf mich jämmerlichen Dutzendmenschen und Laien herabgeschaut hätten, wenn ihnen meine Gedanken geoffenbart worden wären. Da wurden Firnschneiden unter den rechten Arm genommen, während die Schuhe nur mit den Spitzen im pulverigen Schnee hafteten und als nächster Stützpunkt nur ein schwarzer Felsfleck von der Größe einer Flintenkugel winkte. Es war sehr interessant! Der nervöse Trieb nach dem Aufsehen Erregenden, der Amerikanismus maßloser Muskelmeierei trat hier als „leib-, geist- und herzstählender Alpinismus“ auf. Was den Geist anbelangt, so mußte dieser allerdings von eigentümlicher Beschaffenheit gewesen sein. Die beschauliche Seite trat nirgends hervor; jedenfalls hatte dieser Geist keine Gelegenheit gefunden, mit dem Geist in der Natur Zwiesprache zu pflegen. Man hörte nur von Runsen, Spalten, Kaminen und Felsröhren, von unendlichen Steinschlägen, von überhängenden Felsplatten, unter welchen man auf dem Bauch hindurchrutschen mußte etc. etc.

Alle diese Dinge waren für mich nichts Neues, und es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, solchem Treiben mit irgend welcher Bemerkung entgegenzutreten. Hier aber konnte ich eine gewisse Bewegung doch nicht überwinden. Mein Blick fiel zufällig auf eine mit dem Zeichen des Edelweißes geschmückte Tafel, welche die Inschrift „Studentenherberge“ trug. Dies bedeutet, daß junge Leute hier zu sehr billigen Preisen verpflegt werden, wodurch es solch jugendlichen Ferienreisenden ermöglicht ist, auch mit einem knapp bestellten Geldbeutel Alpenreisen zu unternehmen. Jeder Menschenfreund wird sich darüber freuen. Allein durch eine Gedankenverbindung, die sich in mir in dem Augenblick regte, wo das metallene Edelweiß blutrot in den letzten Strahlen der Abendsonne glänzte, wurde mir ein anderes Bild vorgeführt. Kaum einige Wochen waren vergangen, seit ich an dem nämlichen Tische, an welchem jetzt die alpinen Fexen sich unterhielten, einen hübschen jungen Mann von einnehmenden, offenen Zügen sitzen gesehen hatte. Es war offenbar ein Student gewesen. Er hatte sich nach dem Preise eines Führers auf einen der benachbarten „Zähne“ erkundigt, dessen Gefährlichkeit ihm nach den Berichten in den „Fachzeitungen“ im verlockendsten Lichte der Romantik erschien.

Ich strengte mich an, ihm von derlei abzureden, aber der Erfolg war gering. Eine enttäuschte Miene, welche seinen Verzicht auf jenes Unternehmen zu bedeuten schien, nahm ich erst dann wahr, als er die Höhe der Führertaxe erfahren hatte. Offenbar reiste er, gewiß zum Teil auch im Vertrauen auf die Studentenherbergen, mit den bescheidensten Mitteln. Die Bezahlung des Führers hätte mindestens so viel erfordert als eine fünftägige Wanderung auf anspruchsloseren Pfaden, die ihm aber mehr Genuß geboten haben würde. Ich hatte ihm noch gesagt, daß er, von der Gefahr abgesehen, gar keine Zeit und Gelegenheit für den Naturgenuß übrig behalten würde, weil es sich da nur um Tritte und Griffe handle. Indessen, die Legende vom „Kampf gegen die Naturgewalten“ hatte ihn in ihrer berückenden Abenteuerlichkeit festgehalten, denn ich erfuhr am nächsten Tage, daß er nicht auf einem der gewöhnlichen Wege nach den bequemen Pässen der Umgegend mit ihren wundervollen Bildern sondern in der Richtung gegen den von ihm bezeichneten mürben Obelisken fortgegangen sei.

In welchem Zusammenhang ein derartiges Unternehmen mit der Wohlfeilheit der Studentenherbergen stehen kann, gebe ich dem geneigten Leser zur Ueberlegung anheim.

Wenige Tage später las ich in den Zeitungen, daß ein junger Mann aus Tiers aufgebrochen sei und ohne Führer die fragliche Zinne merkwürdigerweise erreicht habe – er war von einem benachbarten bequemen Aussichtsberge mit Fernrohren beobachtet worden. Seither hatte man ihn nirgends mehr gesehen. Eltern und Geschwister desselben waren, wie die Zeitungen weitermeldeten, in die benachbarten Thäler gekommen und hatten Nachforschungen anstellen lassen – aber ohne Erfolg. So mußte man annehmen, daß der junge Mensch verunglückt sei und daß sein Leichnam, wenn nicht hier, so doch irgendwo sonst in dieser Bergwelt verborgen liege und vielleicht einmal durch einen Zufall, wahrscheinlich aber niemals wieder zum Vorschein kommen würde.

An jenem Abend in der „Rose“ blieben die Kletterdramen, die da von verschiedenen Koryphäen erzählt wurden, nicht ohne tadelnden und warnenden Chor im Hintergrund. Am bemerkenswertesten erschien mir die Auseinandersetzung eines Mannes, welcher auf die dem Körper ungewohnten Verhältnisse hinwies, unter denen sich der weitaus größere Teil aller schwierigeren Bergersteigungen vollziehen muß. Zuerst die Mühsal einer langen Thalwanderung, sodann die unruhige oder auch ganz schlaflose Nacht in einer Schutzhütte, die Unregelmäßigkeit im Aufnehmen von Nahrung und Getränke, die vor Sonnenaufgang abermals beginnende Anstrengung und Ueberreizung der Nerven – das alles könnte nicht besser zusammengesucht werden, wenn es sich darum handelte, einen Menschen mit möglichst wenig Genußfähigkeit auf der vielbesprochenen Spitze ankommen zu lassen. Ist die Kletterei gefährlich gewesen, so wird der Rest von Gennßfähigkeit, falls ein solcher vorhanden war, noch verschlungen durch die Sorge, wie [315] und ob der Abstieg gelingen werde, der immer schwieriger ist als das Heraufkommen. Das alles aber wird aufs erheblichste gesteigert, wenn die stützende Hand und die in jeder Hinsicht hilfreiche Anwesenheit des Führers mangelt. Der Einzelne kann an Stellen dem Verderben anheimfallen, wo er mit einem Genossen nur geringe Schwierigkeiten findet.

Diese Auseinandersetzung fand den Beifall eines Anwesenden, und er unterstützte sie durch Mitteilung einer Geschichte, die sich vor wenigen Tagen auf dem vielbetretenen Uebergange von der Brennerstraße ins Tuxer Thal abgespielt hatte.

Ein Student war gegen Abend von Hintertux fortgegangen, um die Brennerbahn zu erreichen. Das Tuxer Joch, ein begraster Wall, wird unter diejenigen Uebergange gerechnet, denen man in der Regel ein „Führer entbehrlich“ beisetzt. Der Student war auch ohne Schwierigkeit bereits auf der westlichen Abdachung des Joches angekommen, als er von einem Grasbande abrutschte und einige Schritte weit gegen einen Felsblock stürzte. In der Anstrengung, sich zu helfen, zog er sich weiter gar nichts als eine einfache Muskelzerrung am Fußknöchel zu. Bald fing dieselbe an zu schmerzen und er setzte sich wieder, um zu rasten. Er zog den Schuh aus, um die Art der Verletzung zu betrachten, konnte ihn aber nicht wieder anziehen, da der Fuß rasch anschwoll. Die beginnende Dämmerung und die Schmerzen in dem nur mit dem Strumpfe bekleideten Fuße machten den Gang unsicher. Bald mußte er sich abermals niederlassen. Jetzt rief er in die beginnende Nacht hinein, damit ihn vielleicht ein Ochsenhirt höre und Hilfe bringe, aber nur das Geräusch der Wildwasser gab ihm Antwort. Er versuchte nun, mit Aufbietung der letzten Kraft thalwärts zu kommen; indessen die Dunkelheit oder der Schmerz verwirrten ihm das Unterscheidungsvermögen, er geriet, anstatt in die Nähe der Ochsenhütte, weiter aufwärts an eine brüchige Stelle, über welche er in den Thalbach hinabrutschte. Dieser war nicht tief, aber die Wellen durchnäßten den ganzen Körper. Gleichwohl gelang es dem Unglücklichen, wieder über die Rutschfläche hinauszukommen, aber nur, um abermals in den Bach hinabzugleiten, wo er nun, zwischen zwei Blöcken eingekeilt, festsaß. Jetzt half das Schreien gar nichts mehr, denn das Tosen des Baches hätte auch eine noch viel stärkere Stimme völlig übertönt.

So verging die Nacht, es verging aber auch der größte Teil des nächsten Tages. Denn erst gegen Abend kam über das Joch ein Reisender mit einem Führer, der das jetzt sehr schwach gewordene Rufen vernahm. Die Ferienfreude des armen jungen Menschen war dahin und er darf sich noch beglückwünschen, wenn er nicht eine schwere und dauernde Schädigung seiner Gesundheit davongetragen hat. Mit einer kleinen Ausgabe für einen Führer wäre er diesem Abenteuer entronnen.

„Lassen wir die Bezeichnung ‚Führer‘ fallen,“ nahm nunmehr ein Mann das Wort, den ich während dieses Abends schon öfter mit Verwunderung betrachtet hatte. Ich kann sein Gesicht nicht besser schildern, als indem ich es – von seiner Magerkeit abgesehen – mit einer Mondkarte vergleiche. Da waren Risse und Rillen, zerschundene Stellen, allenthalben Furchen und Vertiefungen. „Wenn man sich an das Wort ‚führen‘ hält,“ bemerkte er, „so kann wirklich in vielen Fällen von einem solchen Mann ganz abgesehen werden. Handelt es sich bloß um das Finden des Wegs, so giebt es viele Berge, bei denen das jeder selbst vermag. Wiederum giebt es ganz außerordentliche Spitzen, auf welche es kein Führen giebt, weil noch niemand droben war. Setzen wir aber statt Führer ‚Begleiter‘, so kommen wir für solche Gänge wie den des eben erwähnten Studenten dem Sachverhalt näher. Gefunden hat er den Weg auch allein. Hätte er aber einen Begleiter zur Seite gehabt, so hätte das wenig bedeutende Vorkommnis einer Verstauchung eine ganz andere Wendung genommen. Pfade, welche in die Bergwelt führen, sollte man darum niemals allein beschreiten. Die Unglückschronik, welche uns die Fälle von einsamem Sterben und Verderben erzählt, ist so umfangreich, daß jene weit grausigeren und mehr besprochenen Katastrophen, in welchen Wanderer und Führer den Untergang finden, an Anzahl dagegen verschwinden. Diese letzteren finden ihren Wiederhall in allen Zeitungen. Die ungleich häufigeren Fälle aber, in denen ein einsamer Wanderer gleichsam ‚in der Stille‘ verunglückt, gehen zumeist unbeachtet vorüber. Erstlich fällt das Verschwinden eines solchen regelmäßig erst nach einiger Zeit auf. Dann heißt es, dieser oder jener wird ‚vermißt‘. Findet man ihn irgendwo, so ist oft schon so viel Zeit darüber hingegangen, daß man sich an die frühere Nachricht nicht mehr erinnert, und kommt er nicht zum Vorschein, so wird überhaupt nicht mehr davon gesprochen. Ungezählte Leichname liegen noch heute da und dort in den Wildnissen der Eiswelt. – Einsam herumgehen bleibt immer bedenklich. Diese Lehre finden Sie auch in meinem Gesicht eingegraben. Und ich kann es fast ein Wunder nennen, daß sie nicht von meinem Leichenstein erzählt wird. Hätte ich einen Menschen neben mir gehabt, so wäre mir diese lästige Auszeichnung erspart geblieben.“

Wie jedes Beispiel, das den Augen leibhaftig entgegentritt, mehr erregt als ein anderes, so geschah es auch hier. Alles wollte wissen, was da vorgegangen war. Wir erfuhren es alsbald.

„Der Hauptantrieb zu verwegenen Unternehmungen ist die Eitelkeit. Der eine will seine Kletterthaten in Fachzeitschriften gepriesen sehen, ein zweiter klettert, um andere durch seine Leistungen zu verblüffen, ein Dritter, weil irgend einer an seiner Fähigkeit zweifelt, dies oder jenes durchzuführen. So erging es mir, als es sich auf der Veranda des Bärenbads im Stubai eines Tages um die ‚Sonnenmauer‘ handelte. Als ich vorüberging, hörte ich sagen: ‚Da kommt ja einer der ärgsten Bergfexen. Von dem können wir erfahren, ob es möglich ist, auf die Sonnenmauer hinaufzukommen.‘ Ich entnahm aus dieser Aeußerung, daß sich das Gespräch vorher um jene unerstiegene Spitze, welche stets die Blicke der Gäste des Bärenbades anzieht, gehandelt hatte. Als ich die Veranda betrat, wurde das Gespräch noch immer fortgesetzt. Schließlich nahm ich daran teil, indem ich behauptete, daß ich es nicht gerade für unmöglich hielte, die Spitze zu erreichen. Meine Worte erregten allgemeinen Widerspruch. Nur ein einziger gab sie bedingt zu, indem er meinte, die Sache ließe sich möglicherweise durchführen, doch nur unter der Voraussetzung, daß vorher an den schlimmsten Stellen Haken, Ringe, Drahtseile, Leitern u. dgl. angebracht würden. Von diesem Augenblicke an war mein Entschluß gefaßt. Ich wollte zeigen, was ein verwegener Wille vermag. Schon am nächsten Tage mußte ich, das stand bei mir fest, die Unternehmung wagen, damit noch die nämlichen Gäste, die heute gegenwärtig gewesen, ihren Irrtum widerlegt sehen könnten. Niemand erfuhr etwas von meiner Absicht. Als ich am nächsten Morgen den Weg antrat, schienen mir die Stimmen der Berglerchen, die sich in den Wänden der Sonnenmauer herumtrieben, von glücklicher Vorbedeutung. Ich will die Gesellschaft nicht mit der Erzählung davon langweilen, wie ich da über die lotrechten Absätze und Wände hinaufkam. Ich kann nur sagen, daß vier bis fünf Stunden lang jeder Fehlgriff mit der Hand mich Hunderte von Metern hinabgestürzt hätte. Ich bin nicht kopfscheu, aber einmal wäre ich doch beinahe dem Schwindel zum Opfer gefallen, als eine vom Wind getriebene Wolke rasch unter mir hindurchjagte und es mir einen Augenblick lang schien, als ob die Wolke stillstände und der Berg sich in der entgegengesetzten Richtung bewegte. Als ich oben ankam, erblickte ich in der furchtbaren Tiefe einige bewegliche dunkle Punkte. Zugleich hörte ich verwehten Glockenschall. Die Feldarbeiter wurden zum Mittagessen gerufen. Dann baute ich auf den losen Trümmern einen Steinmann und trat den Rückweg an. Es war dies übrigens an jenem Tage nicht das letzte Mal, daß ich den Gipfel betrat. Ich mußte noch sechs- oder siebenmal auf ihn zurückkehren, um nach einer anderen Möglichkeit des Abstieges zu suchen, da ich in der einen und anderen von mir eingehaltenen Richtung nicht mehr weiterzukommen vermochte. Roch jetzt bricht mir bei der Erinnerung an jene Stunden fast der Angstschweiß aus. Oft genug mußte ich den Rücken fest an die Wand drücken und mit den Füßen an den glatten Felsennadeln, auf welche selbst ich nicht hinabblicken konnte oder durfte, nach einem Stützpunkt herumtasten. Die Schuhe hatte ich schon längst zurücklassen müssen. Einige Zeit lang hatte ich sie noch auf dem Rücken getragen, dann aber war ich genötigt, sie auch von dort zu entfernen und hinabzuwerfen. Schließlich gelangte ich vor einen hervortretenden, buckelig unterhöhlten Felswulst. In seinem Schutz mochte sich wohl zu anderer Jahreszeit unten eine mächtige Ansammlung von Schnee erhalten. Damals aber war diese schon soweit hinweggeschmolzen, daß ihr äußerster Rand nur noch in einiger Entfernung von dem Felsbuckel zu sehen war. Hätte ich nun einen Genossen gehabt, so hätte er mich oder ich ihn soweit zu halten oder zu stützen vermocht, daß er auf jenes Schneefeld hinabgekommen wäre und dann den Nachfolgenden hätte auffangen können. Unter den vorhandenen Umständen aber blieb mir nichts [316] übrig, als allein den Sprung auf das Schneefeld hinab zu wagen. Er gelang, aber seine Gewalt warf mich im Abprall über das Schneefeld hinaus mitten unter die scharfen Steintrümmer hinein. Das war also das!“

Und dabei deutete er auf sein von Narben durchfurchtes und entstelltes Gesicht.

„Die Thorheit, so etwas allein zu unternehmen, hat sich verhältnismäßig noch gelinde gerächt. Es waren zehn Wahrscheinlichkeiten gegen eine, daß ich nicht mehr lebendig herabkam.“

Ein Herr aus der Gesellschaft fragte den Erzähler, ob die Aussicht von der Spitze nach seiner Meinung im Verhältnis zu den überstandenen Gefahren genußreich gewesen sei. Der kühne Bergsteiger verneinte das und sagte, er müsse aufrichtig gestehen, daß von der benachbarten leicht zugänglichen Kuhalp aus sich ein anziehenderes und lehrreicheres Bild biete. als von jenem Zacken. „Uebrigens dürfte schwerlich jemals ein Besteiger dieses letzteren zu der Stimmung kommen, solche Eindrücke auf sich wirken zu lassen. Er hat, wenn er einmal dort oben ist, an anderes zu denken. Meine Belohnung war lediglich die Verblüffung der Badegäste, als sie am nächsten Tage den Steinmann erblickten.“

Es wurde noch allerlei über ähnliche Unternehmungen gesprochen und so mancher Fall berichtet, in welchem das Leben eines Reisenden um jämmerlicher Kleinigkeiten willen verloren gegangen war. Eine Muskelzerrung, ein an sich ganz unbedeutendes Unwohlsein, ein Abirren vom Wege, irgend eine Witterungslaune können die schlimmsten Folgen nach sich ziehen, wenn nicht ein Genosse zur Seite geht.

An jenem Abend ahnten wir alle nicht, wie rasch sich dafür eine weitere ergreifende Bestätigung finden sollte.

Etwa acht Tage später befand ich mich mit zwei Genossen, die damals mit in der „Rose“ zu Tiers gewesen waren, auf einem bequemen, vielfach beschrittenen Uebergang zwischen jenen weißen Bergen, die man von der Schwelle der „Rose“ aus sieht. Wir rasteten eben vor einer behaglich eingerichteten Hütte, die dort den Wanderern als Obdach dient. Vor der Hütte brechen Quellen aus dem Moosboden und flechtenbehangene Bergtannen schneiden schöne Bilder aus dem nahen Ferner aus. Hoch oben erscheinen weiße Zelte, von Wolken umzogen. Manchmal donnerte es herab von Eislawinen, welche die Wärme des Mittags löste. Es war ein Alpenbild, wie man es schöner und gewaltiger nicht wünschen kann.

Mit einmal kam ein Hirt, welcher nach verlaufenen Hammeln gesucht hatte, und berichtete, unten beim Weißen Bach habe er eine gestürzte Kuh liegen gesehen. Sie liege gerade unter dem Palfen, auf dem das viele Edelweiß wachse.

Da wir, obwohl es noch früh am Nachmittag war, der schönen Aussicht und der bequemen Unterkunft halber in diesem Berghause zu übernachten beschlossen hatten, so lagen immerhin noch ein paar Stunden vor uns, die wir mit Herumschlendern auf diesem Almenboden zubringen konnten. Es lockte uns das Wort „Edelweiß“, und wir beschlossen, jenem Palfen einen Besuch abzustatten. Der Schafhirt diente uns als Begleiter und Führer. Nachdem wir lange Zeit auf einem ebenen mit Speik und Edelraute bedeckten Boden dahingegangen waren, senkte sich der Grund etwas und wir hörten alsbald das Rauschen eines Wasserfalles aus einer Tiefe herauf, deren Rand augenscheinlich ganz nahe sein mußte. In der That brach die geneigte Weidefläche jäh ab und wir blickten urplötzlich auf eine um etwa vier- oder fünfhundert Meter tiefere Thalstufe, zu welcher diese unsere Wiese in einer einzigen fast lotrechten Wand abstürzte. Als wir so weit gekommen waren, daß wir den untersten Teil des Wasserfalles schauen konnten, deutete der Hirt auf einen schwärzlichen Gegenstand, der, wie es schien, halb im Wasser lag, und sagte: „Dort liegt die Küh.“ Ich richtete mein Fernrohr auf die Stelle, trat aber nach wenigen Augenblicken erschrocken einen Schritt zurück. Das war kein Tier, sondern offenbar ein Mensch.

Uns verging der Gedanke an Edelweiß; wir umschritten auf immer noch bequemem Pfade den Absturz und gelangten bald an die Stelle. Bei unserer Annäherung flatterten einige Raben auf und verloren sich zwischen den Bergerlen. Und dann bot sich uns ein Bild von entsetzlicher Schauerlichkeit, niemals werde ich den Anblick des zur Hälfte im Wasser liegenden, grausam zerschundenen und entstellten Toten vergessen.

Ich sorgte zunächst dafür, daß er ganz aus dem Wasser herausgezogen wurde, ließ ihn mit einem kleinen Hügel von Steinen überdecken und schickte den Hirten ins Thal hinab, damit er die bei solchen Gelegenheiten notwendigen obrigkeitlichen Personen herbeihole. Es war offenbar, daß der Verunglückte entweder in der Dunkelheit oder bei schlechtem Wetter sich durch die Bequemlichkeit des Wiesenpfades hatte verführen lassen, ihn für den richtigen Thalweg zu halten, und dann unversehens an den Rand der Wand gelangt und über dieselbe unmittelbar oder auch in mehreren Abstürzen hinabgefallen war. Das letztere erschien als das Wahrscheinlichere. Es war keine Spur von einer Reisetasche oder sonstigen Habseligkeiten zu entdecken, kein Hut, kein Stock, nichts von dem, was auch die am bescheidensten ausgestatteten Wanderer an oder mit sich zu tragen pflegen. Das alles mußte ihm auf den staffelweisen Abstürzen entfallen sein.

Wir machten deshalb nicht mehr den gleichem Weg zurück, sondern schlugen den Hirtensteig ein, der sich in ziemlich steilen Windungen in der unmittelbaren Nähe jener Wand hinaufzieht. Unsere Vermutung erwies sich als richtig. Bald sahen wir die Fetzen eines Kleidungsstückes an einem Felsblock hängen. Weiter hinauf fand sich ein halb vermoderter Hut zwischen Steinen eingekeilt. Gerade unter dem Rand aber erblickten wir einen Gegenstand, der wie ein schwarz eingebundenes Buch aussah. Der unternehmendste von uns stieg hinüber und brachte eine lederne Brieftasche mit.

Wie groß war mein Entsetzen, als ich in Briefen sofort den nämlichen Namen fand, der mir mehrmals in Zeitungen vorgekommen war, den Namen des jungen Mannes, welcher damals nach seiner tollkühnen Besteigung von Tiers aus spurlos verschollen war. Er hatte also nicht die Verwegenheit jener Besteigung mit seinem Leben gebüßt, sondern diesen einfachen Gang, von welchem gesagt wird, daß ihn Kinder unternehmen können. Und abermals war es also eine „leichte Partie“ gewesen, welche das Unglück herbeigeführt hatte.[1] War noch ein Zweifel übrig, so schwand er beim Anblick der Tagebuchblätter, welche die Tasche enthielt. Es fanden sich Bleistiftnotizen darin vor, welche bis zur Ankunft im Berghause fortgesetzt waren. Aus ihnen ging hervor, daß der Verunglückte nach dem Verlassen jener Zinne eine ganz andere Richtung als die vermutete eingeschlagen und sich sofort in Eilmärschen nach diesem Teile des Gebirges gewendet hatte, wo wir ihn jetzt gefunden. Es konnte also der Tag festgestellt werden, an dem er oben in der Hütte vorgesprochen haben mußte. Dadurch wurde alles übrige aufgeklärt, denn die Leute auf dem Berghause erinnerten sich, daß an dem bezeichneten Tage – es war ein Feiertag gewesen – ein junger Mensch von dem von mir beschriebenen Aeußeren dagewesen sei. Es herrschte damals schlechtes und dunkles Wetter, „beim Joch war’s finster,“ bemerkte der Wirt des Berghauses. Man hatte den Wanderer, als er weiter wollte, zugeredet, hier über Nacht zu bleiben oder sich von einem der Männer, welche an diesem Tage feierten, begleiten zu lassen. Er hatte das abgelehnt – und war in den Tod gegangen.

Am nächsten Tag kamen die Diener des Gesetzes und wir fanden uns wieder an der Unglücksstätte ein. Alles geschah in der vorhergesehenen Ordnung. Die Ueberreste wurden auf ein von uns herbeigeschafftes Brett geschnallt und der Zug bewegte sich nach der Höhe. Außer uns waren aber noch andere Zuschauer da – zwei Adler, die unverwandt von einem unzugänglichen Zacken herabschauten. Als wir weiter oben ins Alpenrosengestrüpp gerieten, pflückten wir Zweige mit den brennroten Blüten und flochten die ganze Gestalt des Armen damit ein, damit das entsetzliche Schaustück den Augen der Müßigen entzogen bleibe.

So kehrte der junge Mensch zu dem Hause zurück, von welchem er vor Wochen ausgegangen war. Derjenige, an den der Vater seine Hoffnung, die Mutter und die Geschwister ihre Sorgen verschwendet hatten, zog nun als eine stille Last auf den Schultern armer Hirten durch die wolkentragenden Berge. Um seine zerfallende irdische Hülle schlangen sich die Blumen, die in der Farbe der Liebe glühen. Aber wir empfanden doch den Stachel, der in dem frühen Ende dieses jungen Mannes lag, und durch alles Mitgefühl ließ sich die Anklage nicht übertäuben: „Durch eigene Schuld!“



  1. Dr. W. Schultze, der in den „Mitteilungen des D. u. Ö. Alpenvereins“ die alpinen Unglücksfälle des Jahres 1893 einer Betrachtung unterzieht, kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, daß die leichten Touren verhältnismäßig am meisten Opfer fordern, deshalb, weil sie von Anfängern und Ungeübten unterschätzt werden. Von den 30 Unglücksfällen in dem genannten Jahre fielen 18 (= 60%) auf führerlose Touristen, darunter 12 auf durchaus leichte Touren. Die Redaktion.