Scenen aus dem politischen Leben in Frankreich

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Scenen aus dem politischen Leben in Frankreich
Untertitel:
aus: Das Ausland, Nr.  170-172 S.  677-678; 683-687
Herausgeber: Eberhard L. Schuhkrafft
Auflage:
Entstehungsdatum: 1828
Erscheinungsdatum: 1828
Verlag: Cotta
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: München
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[677]

Scenen aus dem politischen Leben in Frankreich

[1]
Die Amtsversicherungs-Gesellschaft.

Im Jahr 1825 befand ich mich auf der Präfektur der Polizei und wartete bereits seit zwei Stunden auf den Augenblick, wo man die Gnade haben würde, mir meinen Paß auszufertigen. Ich hatte Zeit, den unhöflichen barschen Ton einer Masse von Commis zu bewundern, die mit den Manieren von Wilden auch das abschreckende Aussehen derselben verbanden, so daß man hätte darauf schwören mögen, es stecken nicht Signalemens, sondern lauter Todesurtheile in ihren Federn. Unter diesem Schreibervolke (foule de griffonnaciers), das wahrscheinlich glaubte, die Bürger bezahlen sie bloß deswegen, um sich von ihnen anschnauzen zu lassen, fiel mir ein einziges civilisirtes Gesicht auf, das mir vorkam wie eine Blume in der Wüste. Ich wechselte mit dem freundlichen Manne ein paar Worte und erfuhr von ihm, daß er sich Visatout nannte.

Einige Tage nachher – es war im Passage der Panoramen – wollte der Zufall, daß ich ihn anrannte; er nahm meine Entschuldigung lächelnd auf; wir geriethen in’s Plaudern; ich kann mir in der That nicht vorstellen, was ihm an meiner Person so gefiel, doch kurz, er lud mich ein, ihn in seiner Wohnung zu besuchen, und ich weiß selbst nicht, warum, ich nahm seine Einladung an. Ich darf wohl sagen, von jenen unsichtbaren Banden, die manchmal gleich bei der ersten Begegnung zwei Menschen an einander ketten, verspürte ich Nichts; indessen war die Bekanntschaft gemacht; es verging nicht leicht ein Tag, ohne daß wir einander sahen, und man hätte uns für Busenfreunde halten können; allein weit gefehlt: wir waren mit einem Sprung über die Freundschaft hinweg zur Vertraulichkeit gelangt.

Man findet übrigens an Herrn Visatout eine merkwürdigere Bekanntschaft, als man sich beim ersten Anblick verspricht: er ist einer von den Menschen, welche als eine Art Kollektivwesen die Civilisation darstellen, so wie dieselbe durch das Ministerium der ersten siebenjährigen Kammer modifizirt worden ist. Ein privilegirtes Kind der Villele’schen Epoche trägt er deren Stempel auf der Stirn: keine Regung der Seele stört den himmlischen Frieden seiner phlegmatischen Physiognomie; nie leuchtet ein Gefühl oder ein Gedanke aus seinen matten Augen. Ob er gleich nicht viel Witz und noch weniger Wissen besitzt, so fehlt es ihm doch nicht an einem gewissen praktischen Sinn, der aber weniger ein Produkt seiner Urtheilskraft als seiner unermüdlichen Thätigkeit ist; er geht just nicht darauf los, aber er ist gewiß, Jemand bei einem falschen Spiel zu ertappen. Der unbedingte Indifferentismus spricht sich in seinem ganzen Benehmen aus. Worte, wie Menschenliebe, Vaterlandsliebe, Wohlthätigkeit, Dankbarkeit sind ihm hohle Nüße, die seinen Appetit nicht befriedigen; geistige Genüsse, die freilich eine wissenschaftliche und ästhetische Bildung voraussetzen, geben seinem Geist keine neue Idee. Leben will er, d. h. sich bereichern, oder nach dem ministeriellen Dialekt (argot ministériel du jour) sich stellen. Natürlich ist das Herz, das vor dem Sarg eines Foy oder Manuel kalt bleibt, desto gerührter, wenn eine Administrativ-Uniform darauf liegt: „Wie Schade, daß der Edle todt ist – er war Staatsrath!“

Die empörendsten Gewaltstreiche der Willkürherrschaft haben den Humor des Hrn. Visatout nie aus dem Gleichgewicht gebracht, sein Herz gleicht einem Bienenstock, worin für die Despoten aller Zeiten und aller Länder Platz ist; er findet jede Regierung gut, denn was gehen ihn die Klagen der Regierten an: die Völker, meint er, sollten sich eben mit der Portion Freiheit begnügen, die man ihnen zumißt, und wenn sie auch nur darin bestünde, daß sie die Brühe selbst bestimmen dürfen, in welcher sie sich verspeisen lassen wollen.

Nichts desto weniger ist Hr. Visatout ein sehr umgänglicher Mann, gegen Jedermann artig und zuvorkommend, ein ängstlicher Beobachter des Salons-Ceremoniells: seine Unterhaltung zwar ist die ordinärste von der Welt, aber, da er sich sehr zum Optimismus hinneigt, an Niemand krittelt und durch seinen Witz Niemand wehe thut, so macht er sich äußerst liebenswürdig.

Hr. Visatout, besser berathen als die meisten Menschen, die über die Wahl ihres künftigen Berufes im Ungewissen sind, war kaum aus der Normandie in Paris angekommen, als er erkannte, daß die Büreaukratie, die sich, wie ein Aussatz, über Frankreich verbreitet, sein Element sey. Ein Herr Vetter, der geheimer Referendär bei der Polizei war, nahm es auf sich, ihn dem Chef zu empfehlen, um ihn als Supernumerarius auf seiner Kanzlei unterzubringen. Nachdem er hier alle niedern [678] Grade durchlaufen hatte, wurde er endlich zum Sous-Chef befördert. Er hatte nun zwar blos einen einzigen Kanzlisten unter sich; von diesem forderte er aber Ergebenheit und Respekt für zehn, und alle Wischer, die einst über Visatout den Kanzlisten ergangen waren, mußte jetzt der arme Tropf sich mit Zinsen zutheilen lassen.

Als ich zwei Tage nachher dem neuen Sous-Chef begegnete, sah er verstimmt aus. „Ei, Sie haben ja Ihren Marschallstab bekommen, woher nun diese Wolken auf Ihrer Stirn?“

„Die Ehre hat ihre Dornen; seit ich Sous-Chef bin, träume ich von Nichts, als Absetzung. Ich sah so viele Leute von Verdienst ihre Stellen verlieren während der fünf Jahre meines Supernumerariats und während der zwanzig Jahre, die ich in der Schreibstube diene, daß ...“

„Gerade das muß Sie beruhigen; blicken Sie einmal um sich: stehen nicht die und die Herren fest?“

„Wohl, aber ohne Zweifel besitzen diese ein Mittel, das ich nicht kenne.“

„Haben Sie nicht eine Frau?“

„Die nicht mehr jung ist und nie hübsch war, und zum Unstern seit zwanzig Jahren das Gewerbe einer Solliciteuse treibt.“

„Wenn es so steht, mein lieber Herr Visatout, so schlafen Sie ruhig.“

„Kann man schlafen, wenn ein Untergebener sich gegen Einen verschwört?“

„Bah!“

„Er heirathet ein hübsches Ding: nun rechnet der Schelm auf meinen Platz.“

Ich verabschiedete mich von dem Sous-Chef, ohne seinen Kummer stillen zu können. Nachdem ich von ihm weg war, trat ihn ein schwarz gekleideter Mann an, der im Leichenton zu ihm sagte: „Ich gebe Ihnen zu bedenken, mein Herr, daß der verhängnißvolle Augenblick vielleicht näher ist, als Sie glauben.“

„Hatte ich doch eine Ahnung,“ erwiederte Visatout, dem die Absetzung nicht aus dem Kopf wollte.

„Bei Ihrer Ahnung werden Sie wohl auch Ihre Maßregeln darnach nehmen und sich mit der mäßigen Summe von fünf Francs Ihren Platz sichern.“

„Ich mir meinen Platz mit fünf Fr. sichern! Ich gäbe auf der Stelle hundert, wenn ...“

„Ja, mein Herr, Ihren Platz auf dem Kirchhof zu Mont Valerien, auf dieser Höhe, wie der hochberühmte Abbé de la Menais sich ausdrückt, wo Sie den Himmel näher haben, wenn die Trompete des jüngsten Gerichts erschallt, und wo Ihnen noch besondere Gebete zu Gut kommenm, von welchen die Nichts zu genießen haben, die sich auf dem profanen Felde des Pater Lachaise begraben lassen.“

Hr. Visatout war über die Rede ganz verdutzt und dachte, der Mensch müsse ein Narr seyn. Er wurde jedoch bald eines Beßern belehrt, als ihm der Schwarze sagte, daß er mit vielen andern eifrigen Dienern der Religion das Geschäft besorge, nach frommen Seelen zu gehen, um ihnen die Gräber zu Mont Valerien gegen den Preis von 5 Fr. zu vertheilen.“

„Sie sollen sich an mir nicht getäuscht haben,“ versetzte Visatour, „hier sind die 5 Fr. für meinen Platz auf Mont Valerien; aber, aufrichtig gesprochen, ich bin eigentlich noch mehr in Sorgen, meinen Platz als Sous-Chef zu sichern.“

„Das Eine schließt das Andere nicht aus,“ erwiederte der Schwarze, indem er einen forschenden Blick auf Visatout heftete; ein gutes Werk bleibt nie unbelohnt. Gehen Sie nach der Barrière d’Enfer; dort steigen Sie in ein Pot-de-Chambre [2] und schlagen die Straße nach Bicetre ein; gegenüber diesem Haus der Narren sehen Sie das Haus der Weisen, insgemein Montrouge genannt; Sie treten keck ein und sagen, daß Sie von Bruder Doucet kommen und den Pater Candide zu sprechen wünschen; diesem tragen Sie ihr Anliegen vor.“

[683] Die sibyllenhafte Sprache des Schwarzen hatte dem Sous-Chef imponirt. Er eilt nach Montrouge. Er läßt sich melden und wird sogleich vorgelassen. Ein kleiner breitschultriger Mann mit blutrothen, schlappen Wangen empfängt ihn – Pater Candide. Visatout erklärt sich kurz über den Zweck seiner Reise; der Pater, ohne ein Wort zu sprechen, schlägt ein großes Buch auf, sieht bald in das Buch, bald auf den Gast und sagt endlich: Richtig.

„Mein Freund, man hat Sie mir als gutdenkend prädizirt.“

„Als gutdenkend, mein Pater? Ich denke nicht viel, ob gut, wage ich nicht zu entscheiden, aber ich suche ...“

„Erfüllen Sie ihre Andachtspflichten?“

„Ich wollte ... ich hätte gern ...“

„Reden Sie frei; gehen Sie Sonntags in die Messe?“

„Ach! Nein!“

„Was thun Sie denn den heiligen Tag über?“

„Ich spiele Schach.“

„Das ist wohl eine anziehende Unterhaltung?

„Man setzt verschiedene Steine gegen einander in Bewegung. Das Schöne des Spiels besteht darin, daß ein König von seinen Laufern, seinen Rittern, seiner Dame etc. recht ins Gedränge gebracht wird, bis dem armen Monarchen, nachdem er in allen seinen Bewegungen gelähmt ist, zuletzt Nichts übrig bleibt, als die Rolle eines Gliedermanns.“

„Ich kann mir denken, daß das Spiel sehr interessant seyn muß. Man muß aber doch auch sehen, daß man wenigstens jeden Monat am ersten Sonntag ein Amt besucht. Wie benehmen Sie sich, wenn sie von der Gesellschaft Jesu übel reden hören?“

„Ich schweige.“

„Daran thun Sie sehr Unrecht. Sie müssen künftig mit Ihrem Glaubensbekenntniß in Bezug auf diesen Gegenstand hervortreten. Ohne sich in lange Discussionen einzulassen, führen Sie einige Thatsachen an, womit Sie den Gottesleugnern oder – was ganz dasselbe ist – unsern Feinden das Maul stopfen; sagen Sie, daß alle Verfolger der Jesuiten auf eine klägliche Weise endeten; sagen Sie, daß Pascal, zur Strafe für seine Verleumdungen, sein ganzes Leben lang durch die schreckliche Vision eines neben ihm geöffneten Abgrundes gequält wurde und zuletzt am Brand der Eingeweide starb; sagen Sie, daß die Parlamente, die sich einbildeten, uns zu vernichten, selbst nicht mehr existiren; sagen Sie, daß Ludwig XVI, augenscheinlich für den Frevel Ludwigs XV, der, im Complott gegen die Vorsehung, mit dem Afterpabst Ganganelli die Aufhebung der Gesellschaft Jesu beschloß, auf dem Schaffot büßte; sagen Sie, daß alle unsere Freunde mit himmlischer Gnade in dieser und in der andern Welt überhäuft wurden; und wenn Jemand von sogenannten Freiheiten der gallikanischen Kirche spricht, so sagen Sie, daß die Entscheidungen des heiligen Vaters die einzigen Glaubensregeln [684] seyen, wovon Sie wissen. Aus dieser Kreislinie gehen Sie nicht hinaus; vor allen Dingen hüten Sie sich, auf Einwürfe zu antworten. Haben Sie verstanden?“

„Ich verstehe.“

„So empfangen Sie dieses Scapulier – unser General, der Pater Luigi Fortis, hat es eigenhändig eingesegnet – es ist das sichtbare Zeichen Ihrer Verpflichtungen gegen die Gesellschaft Jesu; tragen Sie es immer an sich und haben Sie keine Sorgen mehr, Ihre Stelle als Sous-Chef zu verlieren. Dafür bürgt Ihnen die Gesellschaft Jesu, so lange Sie ihr treu seyn werden; aber hoffen Sie ja nicht, eine einzige Ihrer Handlungen vor uns verbergen zu können. Wo Sie sich befinden, vergessen Sie nie, daß ein Jesuite Ihnen zur Seite steht. Wie! Sie zweifeln? Werfen Sie einmal einen Blick in dieß Buch und lesen Sie den Artikel, der Sie betrifft: Hat auf seinem Pult die Etoile und den Constitutionnel; liest aber nur das letztere Journal. Spielt jeden Sonntag Schach ... Gehen Sie in Frieden, mein Sohn.“

Hr. Visatout kam nicht so bald von seinem Staunen zurück; das Buch, worin seine Handlungen verzeichnet waren, schien ihm das Buch des Schicksals; er blickte von Zeit zu Zeit um sich, um sich zu überzeugen, ob wirklich kein Jesuite in der Nähe sey. „Endlich,“ sagte er halblaut vor sich hin, „endlich bin ich meiner Stelle sicher; ich habe mich festgenietet, wie der Herr Finanzminister.“ Und laut setzte er hinzu: „Meiner Treu, eine schöne Einrichtung, diese Jesuiten; man müßte ein Mensch ohne Anstellung, ein rechter Taugenichts seyn, wollte man anders reden.“

„Ich bin nicht Ihrer Meinung,“ sagte Jemand, der hinter ihm die Straße kam.

„Desto schlimmer für Sie,“ entgegnete der Sous-Chef mit dem ganzen Feuereifer des Proselyten, „desto schlimmer für Sie! Und nun überströmte er jenen mit seiner neugebackenen Gelehrsamkeit von Pascal, von den Parlamenten etc., daß dem Armen der Angstschweiß auf der Stirne stand. Dieser, ein ungelehrter Buchhändler, erzählte hierauf, er sey in Montrouge gewesen, um sich sein Patent versichern zu lassen, wegen dessen er Besorgnisse hege: Pater Candide habe ihn nicht gut aufgenommen und ihm den Druck seines Monsieur Arouet vorgeworfen; er habe sich damit entschuldigen wollen, daß er eben vor Allem Buchhändler sey; Pater Candide aber habe Nichts gesagt als: Ich bin eben vor Allem Jesuite, und ihm den Rücken gekehrt.

„Mein Freund, Sie haben einen dummen Streich gemacht.“

„Ach, ja.“

„Ihr Patent steht auf dem Spiel.“

„Verdammt, wer mir gerathen hat, diesen Voltaire zu drucken! (Den ich übrigens gut verkauft habe.)“

„Sie sind also Willens sich zu bessern – gut, so beweisen Sie es: machen Sie sobald als möglich eine vollständige Ausgabe der Missionsgesänge; dieß ist das einzige Mittel, Ihr Patent zu retten.“

„Ich werde mich gleich heute an diese Arbeit machen.“

Ein Coucou fuhr vorüber und sie stiegen beide ein. Zwei Personen, ein Ochsenhändler und ein Schlosser, saßen in dem Wagen und sprachen mit den größten Loberhebungen von Montrouge. „Sie sehen,“ sagte der Sous-Chef zum Buchhändler, „daß Jedermann meiner Meinung ist.“ Während der Unterhaltung bemerkte Visatout durch den Hemdschlitz des Ochsenhändlers ein Stückchen vom Scapulier. Die Gesellschaft des Coucou verstand sich trefflich zusammen und man trennte sich unter gegenseitigen Freundschaftsbezeugungen. „Welche schöne, heilige Einrichtung,“ sagte der Sous-Chef des andern Tags, als er sich auf die Kanzlei begab, „welche schöne, heilige Einrichtung, diese Gesellschaft der Jesuiten, die solche Eintracht stiftet.“

[685]
Wie man nichts als brauchbar zu seyn braucht, um schnell befördert zu werden.

Aber wer ist das wichtige Wesen, das vor mir auf die Tuillerien zu stolzirt, den Kopf zwischen den Schultern wiegt und die Backen aufbläst, daß ich sein Schnauben höre? – Hm! der Mann schnäuzt sich wie ein Bischof, hustet wie ein Deputirter, spuckt wie ein Minister! – Mit einem Male pflanzt sich die ehrfuchtgebietende Gestalt auf, und mit einem musternden Blick, den sie über den Horizont laufen läßt, als ob sie eine Domäne inspizirte, dreht sie sich um und vor mir steht – Visatout, weiland mit dem abgeschabten Rock und dem gebückten Klientengang, jetzt in ein prachtvolles Ternaux-Tuch drapirt.

„Was! Sie sind es, mein lieber Sous-Chef!“ Bei dieser Betitlung verbreitet sich eine leichte Röthe über Visatout’s Gesicht, mühsam hebt er den Arm auf und reicht mir mit der herablassenden Herzlichkeit eines Großen – seinen Zeigefinger.

„Ja, ich war Sous-Chef und schäme mich dessen nicht.“

„Es ist noch nicht so lang.“

„Wohl. Eine übertriebene Bescheidenheit hatte mich abgehalten, auf den Posten Anspruch zu machen, zu welchem mich meine Talente berechtigen; wenn mir mein Secretär seine Arbeit zur Unterschrift bringt, so versichert er mich, daß ich eine ungemeine Gewandtheit in der Ausfertigung von Geschäften besitze.“

„Sie wären schon Minister?“

„Noch nicht so recht. Ich bin gegenwärtig Divisions-Chef oder Unterminister und Staatsrath.“

„Es freut mich, ich hoffe Sie bald Excellenz zu begrüßen.“

„Nein, mein Lieber, ich werde diesen Posten nicht annehmen. Sehen Sie, es ist eine Verantwortlichkeit damit verbunden, welche ... , kurz eine Verantwortlichkeit ...“

„Die nicht so schrecklich ist.“

„Soll ich offen mit Ihnen reden?“

„Sie sind ja noch nicht Minister.“

„Je nun, ich liebe die Art nicht, wie man mit dem Ministerium verfährt; über das Gebelfer des Neids und des Mißvergnügens würde ich mich hinwegsetzen. Die Nachtigall singt trotz dem Quacken der Frösche und dem Krächzen der Raben. Der Minister ist die Nachtigall; die Raben, die Frösche sind ... Allein, was mich am Meisten ärgert, ist die Gemeinheit, wie man mit Männern, die nur das allgemeine Beste wollen, um ein paar lumpige Millionen mehr oder weniger knickert.“

„Sie haben Recht, das ist eine Schande.“

„Noch mehr (mit dem Ton eines Schauspielers, der wieder in seine Rolle fällt), um Minister zu werden, hat es bei mir ein Hinderniß, das ist meine Unfähigkeit.“

„So lassen Sie sich zum Deputirten wählen?“

„Meine Stimme wäre dort überflüssig; ich wünsche mir einen Posten, der mir möglich macht, ganz meinen Pflichten gegen Thron und Altar zu leben.“

„Einen solchen Posten gibt es nur nicht.“

„Noch nicht, aber ... Wünschen Sie mir Glück zu den Segnungen, welche die Vorsehung über meine Familie ausschüttet. Drei von meinen Kindern bekleiden Stellen, wo sie der Regierung und dem Staate sehr nützliche Dienste leisten. Meine Tochter Ursula ist Vorsteherin mehrerer Erziehungshäuser im Gard-Departement, wo sie an der Bekehrung junger Protestanten arbeitet. Mein Sohn Innocenz hat sich in verschiedenen Missionen ausgezeichnet ... “

„In China?“

„Nein.“

„In Japan?“

„Mit Nichten.“

„Also gewiß in der Türkei?“

„Nichts von Allem, sondern in der Normandie. Mein Sohn Innocenz, sage ich Ihnen, hat die Zusicherung eines Bisthums erhalten; denken Sie sich mein Glück, einen Sohn zu haben, der mich firmeln kann. Endlich mein Sohn Hercules ist Präfekt. Er war kaum einen Monat Unterpräfekt, als man ihm eine Oberbeamtung versprach; er wartete nur auf die Erledigung einer Präfektur. Und nun preisen Sie mit mir die Wege der Vorsehung, wie es sich so wunderbar fügte, daß gerade sein Präfekt es seyn mußte, der die Missionäre nicht ganz höflich aufnahm und folglich abgesetzt wurde; man sagt, dieser Beamte habe sich in der Verzweiflung eine Kugel durch den Kopf geschoßen. Diese Ereignisse sind ein rechtes Glück für meine Familie! Gegenwärtig befinden sich alle meine Kinder auf Urlaub hier. Welches Glück! Meine Zufriedenheit wäre vollkommen, wenn nur auch mein Benedikt eine guten Platz hätte; denn ich liebe diesen Sohn wie Jakob seinen Benjamin, weil er mein jüngster ist.“

„Und warum sollte Ihr Sohn Benedikt nicht auch irgend eine einträgliche Bedienstung bekommen können?“

[686] Von einer Familie, wie die Ihrige, wo so sichtbar der Segen Gottes waltet, müssen alle Mitglieder zu der politisch-religiösen Wiedergeburt Frankreichs beitragen.“

„Leider ist mein Benedikt taubstumm. Aber, diesen kleinen organischen Fehler abgerechnet, ist er schlau wie ein Fuchs und gewandt wie ein Affe. Doch es wird spät, mich ruft die Pflicht. Wenn Sie einen Neffen oder einen Vetter unterbringen wollen, zählen Sie auf meine Protektion; ich kann Ihnen vielleicht eine Supernumerariusstelle in meinen Kanzleien verschaffen.“

Seine Halb-Exzellenz, Hr. Visatout, reichte mir noch einmal seinen Zeigefinger und weg war er. Er hatte wohl gethan, sich zu beeilen. Pater Sycophantin und Frater Doucet erwarteten ihn.

„Denken Sie,“ sagte der Erstere, roth vor Zorn, „das Gerechtigkeits- und Liebesgesetz ist von der Pairskammer verworfen worden – das herrliche Gesetz – Sie müssen Herrn von Martignac darüber gehört haben, um es nach seinem ganzen Werth zu schätzen – welches die Pest der Presse in Frankreich ausgerottet hätte. Diese eigensinnige Erbkammer! Bald leistet sie uns so gute, bald so schlechte Dienste; sie gibt sich die Miene, als ob sie für kleine Verletzungen der Charte ein Gewissen hätte, nachdem sie dieser durch die Septennalität und das Sacrilegiumsgesetz den Herzstoß versetzt hat. Sey es noch um eine tüchtige Lieferung neuer Pairs und man wird sie schon mit sich selbst in Einklang setzen. Decaze hat sich begnügt, ihr einige leichte Rekruten in den Schoß zu werfen, Villele wird sie durch royalistische Geister und Bäuche vom Gewicht Humberts von Sesmaison erdrücken (va l’écraser d’esprits et de ventres monarchiques du poids d’Humbert de Sesmaison). Doch unser nächstes Geschäft ist jetzt, daß wir die Censur-Commission unter dem Vorsitz des berühmten Bonald, unsers ersten Dialektikers und Taktikers, organisiren. Die Gesellschaft Jesu kommt Ihren Wünschen entgegen, mein lieber Hr. Visatout, sie genehmigt Ihren Eintritt in den zu bildenden Ausschuß der Censoren; nur möchten wir uns vorher gerne überzeugen, Hr. Visatout, ob Sie die einem brauchbaren und loyalen Censor unentbehrlichen Studien mit Eifer und Erfolg betrieben haben?“

„Ich schmeichle mir, meine Väter, daß Sie mich nicht blöde finden werden; ich wurde zu verschiedenen Malen im Tourniquet [3] verwendet und ohne Anmaßung darf ich sagen, daß es mir mit einigem Scharfsinn gelungen ist, die Regierung von etlichen lästigen Wählern zu befreien, deren Ansprüche zwar sehr scheinbar, aber nichts desto weniger ganz ungegründet waren.“

„Schön, schön: das mag als ein gutes Noviziat für die Censur gelten; aber Ihre wirklichen Studien ...?“

„Sie werden mit mir zufrieden seyn. Ich besorgte in den betreffenden Bureaux das Geschäft, aus den liberalen oder jakobinischen Blättern die Redensarten auszuschneiden, welche die Zielscheibe der heiligen Journale der Congregation und des Ministeriums zu seyn verdienten.“

„Vortrefflich. Sie werden die Güte haben, Hr. Visatout, uns eine kleine Probe Ihrer Geschicklichkeit mitzutheilen. Hier ist ein Constitutionnel und ein Courrier Français. Nehmen Sie diese Journale herzhaft unter Ihr kritisches Messer, als ein redlicher Arzt, der, um seine Patienten zu retten, zur Amputation schreitet.“

Hr. Visatout drauf los, liest, und schneidert, daß es Fetzen gibt – Alles in einem Augenblick.

„Beim heiligen Ignaz! Kein Engel könnte seine Sache besser machen! Schon zehn Paragraphen castrirt! Dreißig Redensarten weggeputzt! Recht so, man soll keinen Talon, d’Agueßeau, l’Hospital loben. Ha! Bewundernswerth! Da schonen Sie Einen von unsern Beamten. Natürlich sagt Ihnen Ihr Verstand, daß er nicht im Ernst mit uns Krieg führt; um einander bei dringenden Gelegenheiten besser zu dienen, muß man manchmal den Schein annehmen, als ob man auf einander recht erbost wäre.

Sie sind berufen, lieber Visatout, der Schlange des Liberalismus den Kopf zu zertreten. Dieser Beruf trägt Ihnen einen Adelsbrief ein. Sie sollen eine Schere im schregen Kreuz zum Wappen haben; es wird sich auf Ihrer Kutsche gut ausnehmen. Aber suchen Sie indessen aus dem Umgang einiger Edeln, welche die Wissenschaft der Censur eben so praktisch als theoretisch gepflegt haben, Vortheil zu ziehen, lassen Sie deren Beispiel und Grundsätze auf Ihren Geist wirken und dann betreten Sie kühn die glorreiche Laufbahn, die wir Ihnen eröffnet haben.“

„Tausend Dank, bester Gönner: ich bin durch Ihre Güte so reich an Segnungen des Himmels, daß mir Nichts zu wünschen übrig bliebe, wenn nur mein Sohn Benedikt auch dem Staat nützlich seyn könnte, wenn er wenigstens ...“

„Auch für Ihren Taubstummen ist gesorgt; er kommt in die geheime Kanzlei, ja er befindet sich in diesem Augenblick bereits in Thätigkeit.“

Die Väter nehmen Abschied. Visatout versinkt in selige Träume, und bunte Erscheinungen ziehen vor seiner Seele vorüber. Hold lächelt ihn der heilige Dominikus an, lustig lodern die Holsztöße auf. Unter das Volk werden Weinflaschen und Würste vertheilt, und es jubelt den Auto da fes entgegen und fragt, warum man blos ketzerische Bücher und nicht lieber Ketzer verbrenne? – Schon lagen Voltaire, Rousseau, d’Alembert, Diderot, Bayle in Asche, und Andere erwartete dasselbe Schicksal, da klopfts an der Thür und herein titt ein Lackey, der den Staatsrath, Direktor der Posten, meldet.

Der Direktor des schwarzen Kabinets.

„Ich komme, lieber College, Ihnen zu dem außerordentlichen Talent Ihres Sohnes Benedikts meinen herzlichen Glückwunsch abzustatten. Er brauchte kaum einen Blick auf die verschiedenen Operationen meines geheimen Bureaus zu werfen, um sie selbst mit einer Geschicklichkeit auszuführen, die meine Leute in Erstaunen setzte. So erlies ich ihm denn auch das gewöhnliche Noviziat von“ [687] sechs Monaten und ernannte ihn sogleich zum wirklichen Siegelbrecher (expert-decacheteur).“

Visatout.

„Wie sehr bin ich Ihnen, Herr Direktor, für die Beweise von Gunst verbunden, womit Sie meinen Sohn von seinem ersten Auftreten an beehren.“

Der Direktor des schwarzen Kabinets.

„Wie! Sie reden von Gunst! Nein, Ihr Sohn verdient seinen Grad. Ein Brief, der in seinen Händen ist, entsiegelt sich, kann man sagen, von selbst, wie sich die junge Lilie vor der Sonne öffnet. Und in der Kunst des Wiederversiegelns ist er, wenn’s möglich wäre, noch stärker. In der That, die Natur hat ihn für dieß Fach geschaffen, und wenn er so fortfährt, sich auszuzeichnen, so werde ich ihn zu meiner rechten Hand machen. Einen Taubstummen von seinem Genie finde ich unbezahlbar.“

Visatout.

„Ich erkenne den ganzen Werth der edlen Gesinnung, die aus Ihrem Urtheil über meinen Sohn hervorleuchtet. Für seinen Eifer, so viel Wohlwollen zu verdienen, bürge ich. Die Vorsehung, die ihm zwei Organe weniger verlieh, beabsichtigte, wie ich mit Ihnen überzeugt bin, seine vollkommene Ausbildung für die Arbeiten Ihres Kabinets, die eben so sehr Verschwiegenheit als Sammlung des Geistes erfordern.“

Der Direktor des schwarzen Kabinets.

„Gewiß. – Ich führe Sie einmal in mein kleines Arsenal, wo ich Ihnen ein Menge Sachen zeigen werde, wovon die unbedeutendste dem Verstand des großen Königs Ehre macht. Unsere sinnreiche Anstalt bestand im schönsten Flor bis auf die constituirende Versammlung, welche aus Haß gegen alle monarchischen Einrichtungen die Grille hatte, das Briefgeheimniß zu respektiren. Zum Glück folgten auf die Zerstörer die Wiederhersteller, und mein Bureau ist der eigentliche Schild des Königreichs gegen die Verschwörung der Philosophie, der Revolutionäre und der Jacobiner.“

Visatout.

„Wer also Plaignier’s Luntenpetarde roch, war ... ?“

Der Direktor des schwarzen Kabinets.

„Das schwarze Kabinet.“

Visatout.

„Wie! Auch die Verschwörung Caron’s und die der vier Unteroffiziere ...“

Der Direktor des schwarzen Kabinets.

„... entdeckte das schwarze Kabinet.“

Visatout.

„Die berühmte schwarze Stecknadelverschwörung ...?“

Der Direktor des schwarzen Kabinets.

„... entdeckte das schwarze Kabinet.“

Visatout.

„Sie steigern meine Achtung für dieß schöne Institut; ich betrachtete es zwar immer als sehr nützlich für unsere Absichten, wußte aber nicht, daß es dem Staat so wesentliche Dienste geleistet hatte.“

Der Direktor des schwarzen Kabinets.

„Die wüthenden Deklamationen der Liberalen gegen das schwarze Kabinet konnten Ihnen dessen Verdienst allein schon beweisen. Wenn es nicht unter meiner Würde wäre, auf ihr Geschrei zu achten, so würde ich sie mit ihren eignen Waffen schlagen. Das schwarze Kabinet wäre gegen die Charte! Heißt es nicht ausdrücklich, der König habe alle Maßregeln zu ergreifen, welche die Sicherheit des Staats erfordert? – Die wahren Freunde des Throns aber kann ich damit beruhigen, daß ich mich auf das Wort des großen Königs berufe: „Der Staat – das bin ich,“ woraus mit unumstößlicher Gewißheit folgt, daß die königl. Regierung, indem sie die Briefe ihrer Unterthanen öffnet, nur ihre eigenen Briefe liest.“

Bei diesen Worten erhob sich der Direktor des schwarzen Kabinets mit einem bedeutungsvollen Lächeln, drückte Hrn. Visatout die Hand und begab sich in aller Hast fort, um mit einer hohen Person zu arbeiten. Hr. Visatout begab sich seinerseits in das Censur-Laboratorium.

[701] Hr. Visatout entledigte sich seines Censorberufs mit solcher Geschicklichkeit, daß ihn die Congregation mit einer Generaldirektorsstelle belohnte. Einige Tage nach seiner neuen Bestallung erhielt er die Weisung, sich mit Anbruch der Nacht nach einem abgelegenen Haus hinter der Poststraße in den Gärten, einem der zahlreichen Beihäuser von Montrouge, zu begeben. Pater Candide kommt ihm mit offenen Armen entgegen: „Eine große Neuigkeit, mein lieber Censor, wir verabschieden die Deputirtenkammer und haben bereits alle möglichen Maßregeln getroffen, um uns gute Wahlen zu sichern. Morgen erscheint die Auflösungs-Ordonnanz.“

„Ich weiß nicht, ob wir uns zu sehr freuen dürfen; seit fünf Monaten, daß ich Censor bin, arbeite ich an meiner politischen Erziehung; jeden Tag fühle ich dem Staat den Puls: Frankreich hat ein constitutionelles Hirnentzündungsfieber, eine unüberwindliche Abneigung gegen unsre Ausnahmsgesetzgebung und Regierung: von da bis zum revolutionären Delirium ist Ein Schritt.“

„Leider ist dieß nur zuwahr, mein lieber Visatout; allein die siebenjährige Kammer läuft mit drei Jahren ab und wir wissen, daß viele Deputirten gesonnen sind, sich schon im nächsten Jahr zurückzuziehen, da die Kammer nur für fünf Jahre gewählt sey. Seltsamer Skrupel! Wir gaben ihnen zu verstehen, daß sie eigentlich schon den Rubikon passirt hätten. Es hilft aber nichts. Sie sind eigensinnig, wie Maulesel. Was ist zu machen? Wir wählen von zwei Uebeln das geringere. Sind Sie unbesorgt; wenn alle Präfekten ihre Instructionen befolgen – daß sie es thun, dafür bürgt uns ihr eigenes Interesse – so machen sie die Wahlliste so, daß unsere Kandidaten überall durchdringen. Ich nehme Paris aus, wo die Autoritäten durch eine Million Augen etwas genirt sind. Doch daran liegt wenig; im Gegentheil wir brauchen eine Opposition: wenn uns Niemand widerspräche, so wären wir genöthigt, uns selbst zu widersprechen. Jetzt ist der Augenblick da, mein lieber Censor, wo Sie sich etwas angreifen müssen.“

„Ich fürchte sehr, daß ich mich als Censor bald nicht mehr werde angreifen können. Hört die Censur nicht mit der Auflösung der Kammer auf?“

„Wie sind Sie so zaghaft, mein lieber Visatout! Die wahre Censur beruht ihrem Prinzip nach nicht auf einem geschriebenen Gesetz. Eine freundliche Erinnerung an die Drucker und Buchhändler, sich in die Absichten der Regierung zu fügen, bei Strafe das Patent zu verlieren. – Sie lächeln, ha ha! die Augen gehen Ihnen auf. – Nein, Bester, es darf Ihnen um Ihre Censur nicht bange seyn. Durch die Wahlen wird zwar Ihr Geschäft etwas unterbrochen, aber nur äußerlich und auf kurze Zeit. Ihre geheimen Funktionen dauern fort und die Einkünfte behalten Sie.“

(Eine Person tritt ein und wispert dem Pater mit geheimnißvoller Miene in’s Ohr.)

„Herrlich! die Congreation hat entschieden, daß Sie zum Deputirten gewählt werden.“

„Wer? Ich!“

„Eben Sie; werden Sie nicht eine schöne Figur spielen auf den ministeriellen Bänken?“

„Aber ich zahle ja nicht die Steuern, welche das Gesetz vorschreibt.“

„Das Gesetz! Noch einmal! Wann werden Sie einmal klug, um diese kindischen Bedenklichkeiten abzulegen? Sehen Sie, durch dieses Spinngewebe fahre ich mit einem Besen. Das Gesetz ist das Spinngewebe, der Besen .... Nicht wahr?“

„Ja. Aber ich halte doch auch viel auf mein Censorat. Ich verliere es doch nicht?“

„Keineswegs. Es werden sich drei Personen in Ihnen vereinigen, der Generaldirektor, der Deputirte und der Censor: so daß Sie die Censurgesetze in der ersten Eigenschaft abfassen helfen, in der zweiten votiren, und in der dritten vollziehen. Wir haben mehr als einmal die trefflichen Resultate dieses sinnreichen Mechanismus erprobt.“

„Sie glauben also wirklich, ich besitze soviel Beredsamkeit, daß ich Vorträge improvisiren und mich mit Benjamin Constant und Casimir Perier in Diskussionen einlassen kann?“

„Nichts ist leichter. Denn wenn diese Leute Sie im Namen des Nationalinteresses auffordern, so antworten Sie ihnen mit unserem Marcellus im Namen des Throns und des Altars; wenn jene Einwendungen machen, so rufen Sie zum Schluß, und im Augenblick erheben sich lärmend vierhundert brave Deputirte für Ihren Antrag. (Er sieht auf die Uhr.) Es ist schon zehn Uhr; gehen Sie mein trauter Visatout, und nehmen Sie morgen Besitz von Ihrem neuen Hôtel. Der Staat läßt es Ihnen mit einer Ihrer wichtigen Stellung angemessenen Pracht möbliren. Wir behandeln die Generaldirektoren wie Minister. [702] Da unser Direktor des Ackerbaues entdeckt hat, daß Frankreich zu produktiv ist, so ist es billig, daß der Mehrertrag unsern Freunden zu gut kommt. Im Nothfall liegt auch Nichts an einem Defizit von zwei bis dreihundert Millionen. Villele weiß schon Rath zu schaffen, wie es zu decken ist – er ist ein großer Finanzmann. – Ich bin nun im Begriff, Einem unserer Mitglieder eine Audienz zu bewilligen. Es ist der würdige Laurentie, den der Bischof von Hermopolis abgesetzt hat. Letzterer behauptet zwar, es sey diese Maßregel bloß eine heilsame Strenge. Der würdige Laurentie will dieß aber nicht gelten lassen. Da er sich selbst dieses Ausdrucks an einem andern Ort – ich glaube, es war in Bezug auf die Bartholomäusnacht – so passend bedient hat, so beklagt er sich mit Recht, daß man ihm seine Worte ungeschickt verdrehe. Wie dem jedoch seyn mag, wir dürfen unsere Freunde nicht in der Patsche sitzen lassen.“

„Freilich, ein Schach darf Einer schon bekommen, nur nicht matt werden.“

„Adieu, ich höre Laurentie: ich werde Balsam in seine Wunden träufeln und schon Etwas für ihn thun, sey es auch nur, daß ich ihn zum Direktor der Gazette de France oder der Quotidienne mache.“

Die Ereignisse folgen sich rasch. Hr. Visatout, durch sein verdienstvolles Censorat zu den höchsten Ansprüchen berechtigt, der Liebling der Congregation und des Ministeriums, unterstützt durch seine alten Freunde von der Polizei, die Gendarmen, und durch seinen Sohn Herkules, den Präfekten der Normandie, der den Grafen Corbière durch seine Administration dergestalt entzückte, daß S. Exc. dessen vollkommene Ausbildung in diesem Fach selbst übernahm – Hr. Visatout trat in besagter Provinz, die er schon durch seine Geburt geehrt hatte und auf die nun der zweifache Glanz des Vaters und des Sohnes zurückstrahlte, als Candidat auf, und wurde, wie sich von selbst versteht, gewählt.

„Habe ich die Ehre, mit Hrn. Visatout zu sprechen?“

„Sagen Sie lieber, daß Sie die Unverschämtheit haben, mit ihm zu sprechen. Wie keck das gemeine Volk ist, ohne Erlaubniß in meine Zimmer einzudringen! Wer sind Sie?“

„Ich bin der gewesene Oberklatscher des Theaters des Variétés.“

„Was wollen Sie?“

„Ihnen Lektionen geben.“

„Schuft, ich liebe die Räthsel im Munde von deines Gleichen nicht; drücke dich besser aus.“

„Excellenz, um es mit klaren Worten zu sagen und ohne mir zu schmeicheln, ich habe als Generalklatschdirektor im Theater des Variétés, wie ich schon zu melden die Ehre hatte, mit Auszeichnung gedient; ich habe mit Vorbehalt von 30,000 Fr., die mir mein Nachfolger auszuzahlen hatte, abgedankt und ertheile jetzt, auf Verlangen, dem hohen Adel und dem verehrungswürdigen Publikum Lektionen ...“

„Ich wundre mich über meine eigene Geduld, daß ich dein freches Geschwätz anhören kann; wenn du dich nicht im Augenblick fortpackst, so werde ich meine Dienerschaft, meine Leute, rufen und dich laufen lehren, schneller als dir lieb seyn mag.“

„Excellenz, ich gehe nicht weg, ohne meine Sendung erfüllt zu haben.“

„Wenn du nicht durch die Thüre willst, so steht dir das Fenster zu Dienst.“

„Sie sollten einen guten Normann wie mich, nicht so behandeln, da ich zudem gleich Ihnen in der Stadt Vire geboren bin, und wie Sie von dem berühmten Gärber, Mathurin Visatout, abstamme, der auf seine Vetter- und Schwägerschaft so viel gehalten hat.“

„So! Du stammst von einem Gärber ab! Meine Lakaien müssen dir das Fell gärben und die Ohren abschneiden.“

„Ehe Sie es so arg machen, werfen Sie einen Blick auf dieses Handbriefchen.“

Visatout erkannte die Züge des Bruders Doucet; und während er noch liest, zieht er schon an einem Lehnsessel, auf dem er seinen Gast Platz zu nehmen nöthiget. „Ach, ich bitte tausendmal um Verzeihung, mein Herr; aber warum ließen Sie mich so lange in der Ungewißheit?“

„Warum? Weil ich den Charakter meines Vetters kennen lernen wollte. Ihre Ungeduld, Ihre Hitze, Ihre Drohungen und vor allem Ihre Hartnäckigkeit, mit der Sie Ihren Willen durchsetzen, – kurz, ich sage, Sie gefallen mir. Sie geben ein Muster von einem Deputirten, und hätten einen Intriganten vom ersten Rang sowohl für unsere großen, als kleinen Theater gegeben. – Nun wohlan, mein Vetter, beginnen wir unsere Uebungen, die Zeit ist kostbar, und ich habe heute den Deputirten von Maine, von Gascogne und Bretagne noch mehr als dreißig Vorlesungen zu halten.“

„Entschuldigen Sie mich, mein Herr, wenn ich nicht so ganz verstehe, was für Lektionen das seyn sollen. Der hochwürdige Herr Bruder Doucet, für den ich die unbegränzteste Achung hege, schreibt mir, daß Sie ein Mann seyen, welcher der Congregation Dienste geleistet habe, und fordert mich auf, mich Ihnen anzuvertrauen; – allein, aufrichtig gesprochen, ich kann mir nicht vorstellen, worin die Unterweisung bestehen soll, welche ein Theater-Intrigant einem Deputirten von Frankreich ertheilen kann.“

„So wissen Sie, mein Herr Visatout, daß diese beiden Gewerbe verschwistert sind, daß ein Gesetz in der Kammer sein Spiel erfordert, wie eine Komödie auf der Bühne. In beiden Häusern gibt es ein Parterre mit zwei feindlichen Parteien, die einander gegenüber stehen; dort ruft man: zur Ordnung, hier: die Pfeifen weg, und wo die Oppositionen zu hartnäckig sind, so schreien die Majoritäten: zur Thüre hinaus! Die Gendarmerie ist dann zumal legislativ und dramatisch, sie setzt die Theaterstücke und die Gesetze der Guiraut, der Ancelot, der Corbière, der Peyronnet durch. Ich könnte die Parallele weiter verfolgen, denn ich habe meine Humaniora und meine Rhetorik zu gleicher Zeit und in Einem Collegium mit Dudon studirt. Wir concurrirten um den Preis in der Amplification. Wenn er auch im posaunenden und ballonartig steigenden Stil stärker [703] war, so übertraf ich ihn dagegen im Stoß der Perioden; unser Regens prophezeite uns daher, daß wir bestimmt wären, die Leute anzuschnarren, und das Publikum durch unsere Talente auszupfänden. So geschah es auch, daß ich im glanzvollen Theater meinem Platz als Oberklatscher einnahm, während Dudon im gesetzgebenden Körper als Deputirter von Frankreich den seinen. Dieser große Mann hat durch seine Beredsamkeit mehr als einmal bewiesen, daß er eben so gut meinen Platz ausgefüllt hätte, als ich bewies, daß ich dem seinen keine Schande gebracht haben würde. Jetzt, Herr Visatout, ist Ihre Eigenliebe zufrieden gestellt? Glauben Sie, daß Sie ohne Ihrer Würde etwas zu vergeben, von mir Lektionen annehmen können, um ein braver Deputirter zu werden? Erinnern Sie sich, daß Napoleon von Talma die Kunst zu thronen lernte.“

„Sie machen eine judiciöse Anmerkung,“ erwiederte Visatout, indem er sich breit hinstellte und seine Hände in die Hosentaschen steckte, „so geben Sie mir Lektionen, wie Talma sie Bonaparte gab. Bonaparte hatte wohl Recht, sich in der Kunst kaiserlicher Attitüden zu bilden, um sich auf den Thron zu setzen; aber ich wüßte Einen, der ihn die Kunst gelehrt hätte, sich auf dem Throne zu behaupten.“

„Wir beginnen,“ sagte der Theatermann, und setzte sich in die feierliche Positur eines Corporals, der Rekruten excercirt. „Deputirter, aufgepaßt! Man krümmt die Halswirbel, schlägt die Augen nieder! – Sie stehen noch zu gerade, wie ein Deputirter der Linken, statt schief zu stehen, wie ein Deputirter der Rechten! – Sie halten den Kopf zu hoch! Noch etwas niederer! – Nicht schief genug! – Es geht schon besser. – Jetzt stellen Sie sich vor, daß ich der Finanzminister sey: ich komme in die Kammer, voll Vertrauen auf die Ergebenheit meiner guten Freunde, der loyalen Deputirten; jedes Mal gereicht es mir zu einem süßen Vergnügen, wenn sie mich durch ein geheimes kabalistisches Zeichen, das für jeden Andern als für mich unverständlich ist, dieser Ergebenheit versichern. Ein gewisses Lächeln thut diese Wirkung. – Noch weit gefehlt, Herr Visatout! Wenn Sie so mit den Lippen und den Backen lächeln, so sieht es ja Jedermann. Sie müssen mit den Augen lächeln, indem sie den Winkel Ihrer Augenlieder etwa um 10 Grad einziehen: sehen Sie, wie ich. – Jetzt aufgepaßt auf’s Kommando: der Finanzminister tritt in die Kammer, alle treuen Deputirten neigen sich gegen ihn und begrüßen ihn mit einem Feudallächeln. Bravo, Herr Visatout! Sie haben im Augenblicke das Tempo dieses Exercitiums begriffen, das den dicken Sesmaisons und den schmächtigen Laboissiére so viel Mühe gekostet hat. Das Uebrige ist für Sie ein Kinderspiel. – Fahren wir fort. Ein liberaler Deputirter besteigt die Tribüne: ist er abschweifend wie Mechin, so läßt man ihn im Labyrinth seiner Ideen sich verwickeln und nimmt sich wohl in Acht, ihn durch das geringste Geräusch zu beunruhigen: ist es aber ein pedantischer Royer-Collard, der sich nicht begnügt, dem Gesetze mit dem Mikroscope fein in’s Herz zu blicken, sondern der es mit seinem groben dialektischen Messer durchwühlt, dann läßt die Majorität ein dumpfes, mißbilligendes Murmeln hören, dann läßt sie den Ruf erschallen, lang und laut: zur Ordnung, zur Ordnung! zur Abstimmung, zur Abstimmung! Wissen Sie, Herr Visatout, daß dieses dumpfe Gemurmel, wenn es mit gehöriger musikalischer Zusammenwirkung intonirt wird, nie ermangelt, den unbescheidenen Redner aus dem Gleichgewicht zu bringen. Zum Glück sind Foy und Manuel todt, die Sie also nicht mehr zu fürchten haben. Die hätten Einen zur Verzweiflung bringen können; denn nicht das Wogenbrausen der empörten Versammlung, nicht der Unwille, der sich in allen Gebehrden der Royalisten malte, nicht das herrschende Gesicht des Hrn. Präsidenten der Kammer, nicht die donnernde Beredsamkeit des Hrn. Präsidenten des Ministerraths, nicht das Rutschen der Bänke – Nichts machte auf diese liberalen Teufel einen Eindruck.“

 (die Glocke schägt 5 Uhr.)

„Guter Gott, ich rede mich bei Ihnen so in’s Feuer, Herr Visatout, daß ich alle meine andern Deputirten vergesse. In meiner nächsten Lektion lehre ich Sie die verschiedenen legislativen Rufe: der Ruf vive le Roi! wie Sie wissen, geht durch die Fistel, der Ruf vive la France! kömmt aus dem Magen. In den fernern Vorlesungen trage ich Ihnen die transcendentale Harmonielehre des Schlußgebrülls, (hurlement de la Clôture) nebst einem Anhang über die Bauchrednerkunst (hurlement vetru) vor, und beschließe den Kurs mit ein paar praktischen Aufgaben über die ministeriellen Bewunderungs-, Freuden-, und Zärtlichkeitssprünge, welche eigentlich mehr in einem gewißen Trippeln bestehen, womit Sie dem Hrn. Minister am Ende seiner Reden Ihren Beifall zu Theil werden lassen.

Indessen haben Sie hier einen kleinen Constitutionscatechismus, welcher eine ausführliche Auseinandersetzung des gesammten Legislations-Systems enthält. Sie werden in dieser Büchse eine Sammlung Deputirter von Wachs und einen Präsidenten von Blech, und Minister von gebranntem Thon (boue cuite) finden; wenn Sie sich das Uebrige hinzudenken, so haben Sie eine wirkliche Kammer vor sich, und können Ihre Uebungen regelmäßig vornehmen. In Zeit von einem Monat hoffe ich, Ihre Deputirtenschaft fertig zu haben.


  1. Les Jesuites en action sous le ministère Villèle. Par M. Santo Domingo, Auteur des tablettes Romaines. Vidi, scripsi. Paris 1828.
  2. Ein schwerfälliges, zweirädriges Fuhrwerk, auch coucou genannt, dessen sich der Pariser von gemeinem Stand bei seinen Landpartien bedient. Die Plätze im Gefährt heißen die Kaninchen-Plätze (places de lapin), die auf dem Bock oder auf dem Imperiale die Affenplätze (places de singes) – daher sagt man voyager en lapin, en singe. – „Mensch, habt ihr keinen Platz in eurem Kasten?“ „Nein, Abbé!“ „Ihr könntet etwas artiger seyn; das Wort Herr wird euch nicht das Maul zerreissen.“ „Ihr nennt mich Mensch, als ob ich ein Ecce homo wäre; ich nenne euch nur Abbé.“ „Unverschämter!“ „Nun, Herr Abbé, mein Wagen ist voll, alle Kaninchenplätze sind besetzt; ich kann euch nur einen Affenplatz anbieten. Wollt ihr?“ „Elender, ich werde dich der Polizei empfehlen.“ Der Abbé, roth vor Zorn, zog seine Schreibtafel aus der Tasche, und notirte die Nummer des Pot de Chambre. –
  3. Die Kanzlei, in welcher die Wahlregister verifizirt werden. Sie befindet sich in der Nähe des Justizpalastes, neben der Sicherheitspolizei, wo einst Hr. Vidoc hauste.