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auszudehnen, liegt auch den fortgesetzten Neigungen zugrunde, gruselige, Entsetzen erregende Handlungen zu lesen, zu hören, zu sehen, zu begehen.

Je stärker dieser Drang nach wertlosem Besitz sich geltend macht, um so mehr verfälscht er normale Neigungen und Wertungen. Etwa wie die Liebe für die Natur nur vorgetäuscht, aber in übertriebener Weise dargestellt wird, wenn ein Tourist alle Spitzen auf seinem Bergstock verzeichnet haben will. Die Leporelloliste zeigt uns diese Gier in bezug auf Liebe, und dem Don Juan ist die Messalina gleichzusetzen, die Nymphomane, die sich stets ungesättigt und verkürzt wähnt, weil in dieser neurotischen Gestaltung reale Befriedigungsmöglichkeiten unzureichend sind. Die Fesselung und Entwertung des Partners kommt dabei wesentlich in Betracht.

„Liebe Seele, wo wäre ich nicht gewesen“, antwortet Immermanns Münchhausen auf die Frage, ob er einen fernen Ort kenne. Die realen Befriedigungen bei Bewegungsspielen, Reiten, Fahren, Schnellfahren, bei der Aviatik stammen in ihrem tiefsten[WS 1] Grunde aus der Besitzergreifung, aus der Bemächtigung. Deshalb will jedes Kind Kutscher, Kondukteur, Lokomotivführer, Aviatiker, nicht minder aber auch Kaiser sein, Lehrer, um die anderen zu beherrschen und den sichtbaren Ausdruck für seine Überlegenheit zu schaffen, Arzt werden, um den Tod zu bannen und die Grenzen des Lebens zu erweitern, General, um die Armee zu leiten, Admiral, um dem Meere zu gebieten.

Lüge, Diebstahl und andere Verbrechen der Kinder erweisen sich als Versuche einer derartigen Grenzerweiterung. Meist bleibt es beim Phantasieren und Tagträumen. Eine von mir angeregte Enquête in einer höheren Mädchenschule ergab bei allen 25 Mädchen Erinnerungen an kleine Diebstähle[1]. Die Lehrerin durfte ich mitzählen. Bei näherer Einsicht erschliesst sich immer als Antrieb dieses Strebens, auf die Höhe zu kommen, ein aus dem Minderwertigkeitsgefühl des Kindes stammender unerträglicher Reizzustand. Häufig wird das Kind unter diesem Zwang neugierig, wissbegierig, sucht seine Fehler zu erkennen und Raum zu schaffen für die Entfaltung seiner Persönlichkeit. Der Mangel, das Übel, das Gefühl der Unsicherheit und der Minderwertigkeit erzwingen, analog dem Kompensationszwang im Organischen, oft auch eine stürmische Entwickelung des psychischen Überbaues. Jatgeir sagt in Ibsens Kronprätendenten: „Ich empfing die Gabe des Schmerzes, und da ward ich Skalde.“ Man kann in einer Anzahl von Fällen leicht den Nachweis erbringen, dass ein besonders starkes Minderwertigkeitsgefühl den Forschertrieb in die Wege leitet, oder dass der „Eingangsakkord“ eines Künstlerlebens, — eines späteren Vorbilds abgeklärter Harmonie der Kunst und des Lebens, — mit einer herben Dissonanz beginnt.“ (B. Litzmann, Clara Schumann.)

Eine andere Art, wie sich Kinder oft ihren Eltern überlegen zeigen, habe ich in der „Psychischen Behandlung der Trigeminusneuralgie“[2] beschrieben. Sie besteht darin, dass in Erinnerung früherer Mängel oder in Nachahmung fremder ein Zustand von scheinbarer Dummheit, Blindheit, Taubheit, Hinken, Stottern, Enuresis, Kotschmieren, Ungeschicklichkeit, Appetitlosigkeit, Erbrechen


  1. Herrn Kollegen Wexberg verdanke ich die Mitteilung eines phantasierten Diebstahls, der deutlich die Überwältigung des Vaters darstellt.
  2. l. c.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: tiesten
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/104&oldid=- (Version vom 31.7.2018)