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fernstehenden Menschen, geschweige eines scheinbar geliebten kann die schwersten neurotischen Symptome hervorrufen, neuralgische Anfälle, Depression, Schlaflosigkeit, Weinkrämpfe etc. Andererseits sind Drohungen mit Verlassen oder Scheidung nicht selten, und sollen Beweise des Einflusses erbringen.

Dass der männliche Protest in der neurotischen Koketterie herrscht, geht aus mehreren Erscheinungen hervor. Die starke Abneigung vor einer deutlich weiblichen Rolle wurde bereits hervorgehoben; sie kann in diesen Fällen ein auffälliges Bild, wie wir gezeigt haben, den Schein eines double vie, einer Spaltung des Bewusstseins, einer Ambivalenz (Bleuler) hervorrufen. Immer ergeben sich in der Analyse gleichzeitig eine Anzahl weiterer Beweise für das Streben zur Manngleichheit. Träume, Phantasien, Halluzinationen, ausbrechende Psychosen zeigen in deutlicher Weise das Streben ein Mann zu sein, oder eines der vielen Äquivalente wie Furcht vor einem weiblichen Schicksal. Die starke Entwertungstendenz gegenüber dem Manne stammt aus dem Ringen nach Gleichwertigkeit und drängt im Sexualerlebnis zur Fiktion einer männlichen Rolle, die sich in der Frigidität, im Obenseinwollen und in jenen Perversionen ausdrückt, die den Mann in eine sklavische, erniedrigende Position zwingen.

Oft rechnet man den Ausbruch der Neurose von solchen Momenten an, wo die Furcht vor einer Entscheidung, Prüfungsangst, Angst vor der Ehe, vor öffentlichem Auftreten, Platzangst, eine ärztliche Behandlung erfordern. Diese Angst entsteht beim Auftauchen eines Widerspruchs im männlichen Protest, wenn in dessen Verfolgung eine Herabsetzung, ein weibliches Schicksal, eine Niederlage und damit die Notwendigkeit eines Eingeständisses der Weiblichkeit droht.

So war es bei einer meiner Patientinnen, die vor mehreren Jahren knapp vor ihrem ersten Auftreten an Klavierspielerkrampf erkrankte. Diese Neurose gab einen guten Vorwand ab, einer gefürchteten Niederlage zu entgehen. Die nähere Einsicht in die Bedingungen dieser Erkrankung ergab eine neurotische Illusion, in welcher Patientin durch den Anblick der Noten an männliche Genitalien erinnert wurde. Nichts läge näher als die Auffassung einer gesteigerten, aber verdrängten Sexualität, deren Widerspiel in dem „Klavierspielerkrampf“, einer Verdrängung von Masturbationsneigungen, zu suchen wäre. Das Ergebnis lautete durchaus anders. Der Triumph in der Öffentlichkeit sollte die Gleichberechtigung mit dem Manne bedeuten, die Manngleichheit. Diese Fiktion stand mit der Wirklichkeit, mit ihrer Weiblichkeit, in Widerspruch, sodass ein öffentliches Auftreten — sehr viele begabte Mädchen und Frauen scheitern aus dem gleichen Grunde — einem endgültigen Abwägen der Tatsachen gleichkam. Letzteres liess der vor die Tatsachen gestellte Realitätssinn der Patientin nicht zu, und arrangierte durch symbolische Auffassung der Notenköpfe und Striche ein fiktives Hindernis, das gleichzeitig an die eigene Weiblichkeit erinnerte und so zu einem Rückzugssignal wurde.

Der Widerspruch im männlichen Protest dieser Patientin ergab sich, wie fast regelmässig in der Neurose, aus der Unrealisierbarkeit der Fiktion, gerade wenn vor der Entscheidung — eine regelmässige, selbstverständliche Tatsache — die Möglichkeit einer weiblich gewerteten Niederlage auftaucht. Nun wird der Charakterzug der Ängstlichkeit, der Schüchternheit, das Lampenfieber verstärkt, und

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/122&oldid=- (Version vom 31.7.2018)