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konstruktive Bedeutung darin liegt, dass sie der Patientin gestattet, gegen den Mann zu operieren. Nun kann sie ihm sein Mannesrecht verweigern und verweist ihn, anfangs mitten in der Nacht, später dauernd aus dem Schlafzimmer. Denn er „schnarcht, und stört sie so am Einschlafen“. Unsere Patientin fände leicht ein anderes Argument, falls sich dieses nicht böte, und es wäre ein arger Fehler, etwa eine neurotische Konstruktion auszuschliessen, weil das Recht auf Seiten des Nervösen liegt. Um recht zu behalten, wird der Patient in der Regel treffend argumentieren; das neurotische Stigma liegt vielmehr in der Tendenz, seine Überlegenheit mit allen Mitteln ersichtlich zu machen. Der Querulantenwahn z. B. zeigt uns diesen Mechanismus mit noch grösserer Deutlichkeit. — Die Neurose unserer Patientin baut übrigens sichernd weiter fort. An ihre Schlaflosigkeit knüpft sich, um diese zu festigen, eine Gehörsüberempfindlichkeit. Deren Mechanismus besteht in einer tendenziösen Aufmerksamkeitsüberladung der Hörfunktion, so dass wir auch sagen könnten: damit Patientin, sobald sie einschläft, durch die geringsten Geräusche geweckt wird. So kann sie, des Morgens noch wach, in den Tag hineinschlafen und sich den weiblichen Aufgaben der Haushaltung entziehen, ähnlich wie sie sich durch Lampenfieber und Fingerkrampf der Herrschaft der Mutter entzogen hat. Eine abschliessende Sicherung bildet eine Gehörshalluzination, ein sägendes Geräusch, das sich analytisch nach 2 Richtungen verfolgen lässt. Die eine Deutung ergibt ein warnendes und zugleich ihre Koketterie aufstachelndes Memento: als sie einst mit 8 Jahren eine intime Szene bei ihrer verheirateten Schwester belauschte, fühlte sie sich als ausgeschlossen, verkürzt und herabgesetzt. Eine ähnliche Wertung lässt sie, um sich gegen ihren Mann scharf aggressiv halten zu können, seiner „Gleichgültigkeit“ zuteil werden, wenn er früher einschläft. Eine zweite Deutung führt in eine andere Richtung. Das Geräusch erinnert an das Absägen eines Stammes und symbolisiert akustisch[1] die Entmannung, die Entwertung des Mannes. Wie so häufig, erweist sich dieses Symptom, ganz wie ich es vom Traume, von Symptomen und von der Neurose behauptet habe, als Darstellung eines Aufsteigens von der weiblichen zur männlichen Linie, als der männliche Protest auf eine meist vorausempfundene weibliche Situation, auf ein antizipiertes und aufgebauschtes Gefühl der Verkürzung, als ein Symbol des Lebensplanes dieser nervösen Patientin.

Dieser und ähnliche Fälle konnten mich auch belehren, wie die Suggestibilität im Dienste der Sicherungstendenz steht, sei es, damit sich der Patient im Kleinen die Überzeugung seiner Schwäche holt, um im entscheidenden Punkte wehrhaft zu sein, sei es, dass er mit überraschender Schmiegsamkeit sich einfügt, um den andern zu erobern[2]. Die geradlinigeren Versuche seiner Herrschsucht kontrastieren dann so gewaltig, dass bei oberflächlicher Betrachtung die Auffassung einer Bewusstseinsspaltung nahe genug liegt. Ebenso wird


  1. Man erinnere sich des ,Organjargons“, von dem öfters die Rede ist. So würden die Wörter: „schrill“ und „grell“ in ihrer „übertragenen“ Bedeutung gefühlsmässig Analogien zum Ausdruck bringen, die das eine Mal mit dem Gehörsorgan, das andere Mal mit dem Auge empfunden werden.
  2. Letzterer Mechanismus erweist sich als die Grundlage der passiven Homosexualität und beide Einstellungen können sich als die Struktur des Masochismus (daher besser: Pseudomasochismus) herausstellen.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/124&oldid=- (Version vom 31.7.2018)