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unbewusster Kunstgriff in der Malerei, die — weil vorwiegend von Männern geübt — oft die Macht der Frau, ebenso die Furcht vor ihr durch die räumliche Höherstellung zum Ausdruck bringt. Auch in den religiösen und kosmogonischen Phantasien drängt sich die Vorstellung einer Überlegenheit oft in dieser räumlichen Verlegung nach oben durch. — Dass in dem Traume unserer Patientin das räumlich-gegensätzliche Schema nach der Analogie „Mann-Weib“ durchschlägt, findet sich auch in dem Nebeneinander der Patientin und der Mutter — „mit der Mutter“ — angedeutet.

Dieser erste Traum der Patientin in der Behandlung beginnt also mit Erwägungen über die Rolle des Mannes und der Frau. Man darf es niemals unterlassen, auch wenn die Überzeugung des Psychotherapeuten bezüglich der Bedeutung dieses Problems für die Neurose felsenfest ist, vorurteilslos die Fortsetzung des Traumes in Betracht zu ziehen, und neue bestätigende Daten abzuwarten und zu vergleichen. Die weiteren Erklärungen der Patientin betrafen eine Uhrkette, die durch die Schuld ihres Mannes in Verlust geraten war. An den Verlust einer Uhr kann sie sich nicht erinnern. Über die Bedeutung der im Traum an Stelle der Kette gesetzten Uhr befragt, antwortet Patientin affektvoll, aber scheinbar „vorbeiredend“, nicht der Verlust der Kette, sondern eines an dieser befindlichen Anhängsels habe sie betrübt. — Um kurz zu sein, die an einer Damenkette herabhängende Uhr ist identisch mit dem verloren gegangenen Anhängsel, um welches Patientin trauert und für das sie nach einem Ersatz sucht.

Der Traum begann mit einer bildlichen, in räumliche Darstellung gebrachten Gegenüberstellung von minderwertiger Weiblichkeit und mehrwertiger Männlichkeit und schliesst folgerichtig mit einem Ausdruck des Strebens nach einem „Ersatz“ für die verloren gegangene Männlichkeit. In dieser konstruierten fiktiven Leitlinie mussten auch der Charakter, die Affektreaktion, die Bereitschaften und die neurotischen Symptome liegen, wie sich auch in der Folge zeigte. Die Charakterzüge der Ungeduld, Unzufriedenheit, des Trotzes und der Verschlossenheit ergaben sich demnach wie alle anderen als sekundäre Hilfslinien, die in Abhängigkeit von der leitenden Fiktion zur Erreichung einer männlichen Höhe standen.

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/150&oldid=- (Version vom 31.7.2018)