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I. Kapitel.
Ursprung und Entwickelung des Gefühls der Minderwertigkeit und dessen Folgen.

Die Feststellungen der „Organminderwertigkeitslehre“ (S. Studie l. c.) beschäftigten sich mit den Ursachen, mit dem Verhalten, mit dem Äusseren und der geänderten Arbeitsweise der minderwertigen Organe und führten mich zu den Anschauungen über Kompensation durch das Zentralnervensystem, an die sich Erörterungen über die Psychogenese anschlossen. Es hatte sich eine merkwürdige Beziehung zwischen Organminderwertigkeit und psychischer Überkompensation ergeben, so dass ich eine fundamentale Anschauung gewann: die Empfindungen der Organminderwertigkeit werden für das Individuum zu einem dauernden Antrieb in der Entwickelung seiner Psyche. Für die physiologische Betrachtung ergibt sich daraus eine Verstärkung der Nervenbahnen nach der Quantität und Qualität, wobei eine gleichzeitige ursprüngliche Minderwertigkeit dieser Bahnen ihre tektonischen und funktionellen Eigenheiten im Gesamtbilde zum Ausdruck bringen kann. Die psychische Seite dieser Kompensation und Überkompensation kann nur durch psychologische Betrachtungen und Analyse erschlossen werden.

Nach den ausführlichen Schilderungen der Organminderwertigkeitals Ätiologie der Neurose — in meinen früheren Arbeiten, insbesondere in der „Studie“, im „Aggressionstrieb“, im „psychischen Hermaphroditismus“, in der „neurotischen Disposition“ und in der „psychischen Behandlung der Trigeminusneuralgie“[1] kann ich mich bei der gegenwärtigen Schilderung auf jene Punkte beschränken, die eine weitere Aufschliessung der Beziehungen zwischen Organminderwertigkeit und psychischer Kompensation bedeuten und für die Frage des neurotischen Charakters von Belang sind. Zusammenfassend hebe ich hervor, dass die von mir beschriebene Organminderwertigkeit, „das Unfertige an dieser Art von Organen, ihre oft nachweisbaren Entwickelungsstillstände, den Mangel an Ausbildung in histologischer oder funktioneller Richtung, das funktionelle Versagen in der postfötalen Zeit, andererseits die Steigerung ihrer Wachstumstendenz bei Kompensations- und Korrelationszwang, die häufige Erzielung funktioneller Mehrleistung sowie den fötalen Charakter von Organen


  1. S. die Publikationsstellen am Schlusse dieses Buches.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/17&oldid=- (Version vom 31.7.2018)