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ist. — Bartel konnte unter den Selbstmördern ein auffallendes Vorwiegen des Status thymico-lymphaticus, speziell Hypoplasie der Sexualorgane beobachten. Bezüglich der jugendlichen Selbstmörder habe ich, Netolitzky u. a. den Befund körperlicher Minderwertigkeit hervorgehoben. Frankl v. Hochwart hat Aufregungszustände, Reizbarkeit, halluzinatorische Verworrenheit bei Tetanie beschrieben. Französische Autoren (zitiert nach Pfaundler) schreiben dem pastösen torpiden Habitus der Kinder Unlust, Trägheit, Schläfrigkeit, Zerstreutheit, Stumpfsinn, Phlegma zu, dem erethischen Unruhe, Lebhaftigkeit, Reizbarkeit, Frühreife, Stimmungsschwankungen, Affektivität, Unverträglichkeit, sonderbares Wesen und einseitige Begabung (Dégénérées superieurs) — Pfaundler hebt das Beunruhigende, Lästige und Qualvolle hervor, von dem die konstitutionell minderwertigen Kinder infolge von Hautausschlägen, Koliken, Schlafstörungen und funktionellen Anomalien heimgesucht werden. — Czerny, der auf den Zusammenhang von Darmstörungen der Kinder mit Neurosen aufmerksam gemacht hat, betont ganz besonders die Bedeutung der Psychotherapie bei Kindern, die im Verlauf konstitutioneller Erkrankungen nervös geworden sind. Hamburger hat erst kürzlich den Charakter des Ehrgeizes bei nervösen Kindern hervorgehoben, Stransky den Zusammenhang von Myopathie und psychischen Erscheinungen.

Diese kurzen Hinweise geben uns einen Überblick über die Versuche der gegenwärtigen Forschungsrichtung, den Zusammenhang psychischer Anomalien im Kindesalter mit der konstitutionellen Minderwertigkeit zu betonen und festzuhalten. Die erste umfassende Grundanschauung über diesen Zusammenhang habe ich in der „Studie“ veröffentlicht, wo ich darauf hinwies, wie ein besonderes Interesse und eine stete Aufmerksamkeit das minderwertige Organ zu behüten suche. Ich konnte in dieser und anderen Arbeiten darauf verweisen, wie die Minderwertigkeit eines Organs dauernd die Psyche beeinflusst, im Handeln und Denken, im Träumen, in der Berufswahl, in künstlerischen Neigungen und Fähigkeiten.[1] Der Bestand eines minderwertigen Organs erfordert ein derartiges Training der zugehörigen Nervenbahnen und des psychischen Überbaues, dass letzterer kompensatorisch befruchtet wird, falls die Kompensationsmöglichkeit gegeben ist. Dann aber müssen wir gewisse, dem Organ zugehörige Verknüpfungen mit der Aussenwelt auch im psychischen Überbau verstärkt vorfinden. Dem ursprünglich minderwertigen Sehorgan entspricht eine verstärkte visuelle Psyche, ein minderwertiger Ernährungsapparat wird die grössere psychische Leistungsfähigkeit in allen Ernährungsbeziehungen zur Seite haben, Gourmandise, Erwerbseifer, und — auf dem Wege über das Geldäquivalent, — Sparsamkeit und Geiz werden verstärkt hervortreten. Die Leistungsfähigkeit des kompensierenden Zentralnervensystems wird sich durch qualifizierte Reflexe (Adler) und bedingte Reflexe (Bickel) äussern, durch empfindliche Reaktionen und verstärkte Empfindungen. Der kompensierende psychische Überbau wird die psychischen Phänomene des Vorausahnens und Vorausdenkens und ihre wirkenden Faktoren wie Gedächtnis, Intuition,


  1. S. auch Adler, Die Theorie der Organminderwertigkeit und ihre Bedeutung für Philosophie und Psychologie, Vortrag in der Philosophischen Gesellschaft a. d. Universität zu Wien 1908 und J. Reich, Kunst und Auge, Oesterreichische Rundschau 1908.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/21&oldid=- (Version vom 31.7.2018)