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Patient von einer Situation eine Herabsetzung befürchtet oder erfährt. Er, der sozusagen mit Minderwertigkeitsgefühlen vorgeimpft wurde, zeigt sich anaphylaktisch gegen jede Verringerung seines Persönlichkeitsgefühls und findet im Zaudern, im Schwanken, im Zweifel und in der Skepsis, ebenso im Ausbruch einer Neurose oder Psychose noch Zuflucht und Sicherung gegen die grösste Unlust, die ihn treffen könnte, gegen die Heraufbeschwörung einer deutlich empfundenen Minderwertigkeit. Dermassen sind auch die typischen Veranlassungen zum Ausbruch der Neurosen und Psychosen leicht zu erraten und nachzuweisen :

I. Suchen des Geschlechtsunterschiedes, schwankende Auffassung der eigenen Geschlechtsrolle, ursächlich für die Erregung des Minderwertigkeitsgefühls. Empfindung und Gruppierung weiblich gewerteter Züge, schwankende, zweifelnde, hermaphroditische Apperzeption und hermaphroditische Bereitschaft. Bereitschaft und psychische Geste der weiblichen Rolle bringen stets grössere Passivität, ängstliche Erwartung etc. mit sich, rufen aber den männlichen Protest, stärkere Emotionalität (Heymanns) hervor.

II. Beginn der Menstruation.
III. Termin der Menstruation.
IV. Zeit des Geschlechtsverkehrs, der Masturbation.
V. Heiratsfähigkeit.
VI. Schwangerschaft.
VII. Puerperium.
VIII. Klimakterium, Abnahme der Potenz.
IX. Prüfungen, Berufswahl.
X. Todesgefahr.

Alle diese Termine rufen Steigerungen oder Änderungen in den vorbereitenden Einstellungen zum Leben hervor. Das gemeinsame Band, das sie verbindet, ist die Erwartung neuer Tatsachen, die für den Neurotiker immer neuen Kampf, neue Gefahr des Unterliegens bedeuten. Er schreitet sofort zu intensiven Sicherungen, deren äusserste Grenze durch den Selbstmord gesetzt ist. Ausbrüche von Psychosen und Neurosen stellen Verstärkungen seiner neurotischen Bereitschaft vor, in der regelmässig auch sichernde, vorgeschobene Charakterzüge zu finden sind wie: Steigerung der Überempfindlichkeit, grössere Vorsicht, Jähzorn, Pedanterie, Trotz, Sparsamkeit, Unzufriedenheit, Ungeduld u. a. m. — Da diese Züge leicht nachzuweisen sind, eignen sie sich auch ganz besonders zur Feststellung des Bestandes einer psychogenen Erkrankung.

Wir sind im Vorhergehenden zu dem Schluss gekommen, dass das Gefühl der Unsicherheit es ist, das den Neurotiker zum stärkeren Anschluss an Fiktionen, Leitlinien, Ideale, Prinzipien zwingt. Auch dem Gesunden schweben diese Leitlinien vor. Aber sie sind ihm ein Modus dicendi, ein Kunstgriff, um das Oben vom Unten, das Links vom Rechts, das Recht vom Unrecht zu unterscheiden, und es mangelt ihm nicht die Unbefangenheit, im Falle des Entschlusses sich von diesen abstrakten Fiktionen zu befreien und die Rechnung mit dem Realen zu machen. Ebensowenig zerfallen ihm die Erscheinungen der Welt in starre Gegensätze; er ist vielmehr jederzeit bestrebt, sein Denken und Handeln von der irrealen Leitlinie loszulösen und mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Dass er überhaupt Fiktionen als Mittel zum Zweck benützt, liegt in der Brauchbarkeit der Fiktion, um die Rechnung

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/28&oldid=- (Version vom 31.7.2018)