Seite:AdlerNervoes1912.djvu/67

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

des Mundes, Daumenlutschen, Neigung alles in den Mund zu stecken, Erbrechen. Dabei meist gutes Gedeihen, sofern dies durch andere gleichzeitige Organminderwertigkeiten nicht gehindert wird.

Aber das Übel, die Entbehrung, Verwöhnung und die Schmerzen, die von der Wiege an den minderwertigen Ernährungstrakt begleiten, erwecken gleichzeitig ein Gefühl der Minderwertigkeit, Verkürztheit und Unsicherheit und drängen das konstitutionell disponierte Kind auf den Weg der Kunstgriffe. Das stärker und überstark ausgebaute, frühreife Persönlichkeitsideal schliesst auch fiktive Ziele überreicher Befriedigungen in sich, denen die Wirklichkeit nie gerecht werden kann. Die Aufmerksamkeit solcher Kinder ist nach Art einer Zwangsidee auf alle Ernährungsprobleme und deren Sublimierungen (Nietzsche) gerichtet. Die Entbehrung eines Leckerbissens löst bei ihnen ganz andere Affekte und Handlungen aus, als wir erwarten. Ihr Sinn geht nach der Küche, ihr Spiel und ihre infantile Berufswahl setzt sich aus ihren Bereitschaften für Nahrungserwerb in Phantasien fort, Koch oder Zuckerbäcker zu werden. Die Bedeutung des Geldes als Machtfaktor dämmert ihnen früher und ungeheuerlicher auf, ebenso der Sinn für Geiz und Sparsamkeit. Stereotypien und Pedanterien beim Essen finden sich oft, prinzipielle Massnahmen wie: das Beste zuerst, oder zuletzt zum Munde zuführen; die Ungeduldigen bevorzugen erstere Praktik, die Vorsichtigeren und Sparsamen letztere. Idiosynkrasien gegen Speisen, Nahrungsverweigerung, hastiges Schlingen werden oft als Trotzgeberde festgehalten und zeigen die Verwendung des Ernährungsproblems zur Aggression gegen die Eltern. — Abgesehen von organischen Erkrankungen des minderwertigen Ernährungsapparats im späteren Leben, von denen ich bei diesem Typus auf Ulcus ventriculi, Appendizitis, Karzinom, Diabetes, Leber- und Gallenerkrankungen aufmerksam gemacht habe, zeigt sich in der Neurose die stärkere Beteiligung, das Mitschwingen und die häufigere Verwendung funktioneller Störungen des Magendarmtraktes. Seine intimere Beziehung zur Psyche spiegelt sich in vielen neurotischen und psychotischen Symptomen wieder. Einem speziellen Kunstgriff dieser Art glaube ich auf der Spur zu sein, ohne eine abschliessende Anschauung vorlegen zu können. Eine Anzahl neurotischer Symptome wie Erythrophobie, neurotischer Obstipation und Kolik, Asthma, wahrscheinlich auch Schwindel, Erbrechen, Kopfschmerz, Migräne stehen in einem mir noch nicht ganz aufgeklärten Zusammenhang mit willkürlichem, aber unbewusstem Zusammenspiel von Anuskontraktion („Krampf“ der Autoren, „Spasmus des Sigma“? Holzknecht, Singer) und Aktionen der Bauchpresse, symbolische Akte, die unter der Herrschaft der verstärkten Fiktion zustande kommen.

Den Erwerbsinn dieses Typus, seine Gier nach Geld und Macht fand ich auffallend im Vordergrund und als wesentlichen Einschlag im Persönlichkeitsideal.

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/67&oldid=- (Version vom 31.7.2018)