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das sei ein böser Zufall. Ich konnte folgendes ermitteln: Der Großvater mütterlicherseits litt an einer diabetischen Iritis und stand lange Zeit in augenärztlicher Behandlung. Die Mutter zeigte einen Strabismus convergens, desgleichen der jüngere Bruder des Patienten, der beiderseits an Hypermetropie und herabgesetzter Sehschärfe litt, nicht genau nachweisbar wegen Unaufmerksamkeit und geringer Intelligenz des Knaben. Ein Bruder der Mutter war von häufigen Rezidiven einer Conjunctivitis ekzematosa geplagt und zeigte Strabismus convergens. Unser Patient besaß volle Sehschärfe, einen geringen Grad von Hypermetropie, zeigte aber Mangel des Konjunktivalreflexes auf beiden Augen.

Ich will nicht allzu viel aus diesem Falle folgern. Immerhin scheint mir festzustehen, daß man bei diesem Knaben eine Minderwertigkeit des Sehorgans annehmen muß, ziemlich sicher nachweisbar durch die Heredität, die verschiedenen Erkrankungsformen seiner Angehörigen, teils entzündlicher, teils funktioneller Natur, dem Ausfall der eigenen Reflexfunktion der Konjunktiva und der mangelhaften Behütung des Auges durch seinen Träger, ein Umstand, der mir mit der mangelnden Reflexaktion in einem gewissen, übrigens nicht ganz geklärten Zusammenhang zu stehen scheint. An diesem Punkt muß ich noch hinzufügen, daß bei genügenden psychischen Vorbedingungen die oben geschilderte Minderwertigkeit des Auges wettgemacht werden kann, und zwar durch Mehrleistungen der Psyche. Der Knabe kann „durch Schaden klug“ werden und durch psychische Mehrleistung den teilweisen organischen Defekt decken. Der Übergang aus der Organminderwertigkeit in psychische Mehrleistung wird in solchen Fällen greifbar. Es kann aber auch keiner Frage unterliegen, daß in der Art der psychischen Kompensation die Spuren der auslösenden Organminderwertigkeit unverwischbar bleiben, daß beispielsweise im vorliegenden Falle der Schutz des Auges mehr in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit rücken und damit der visuelle Charakter des Individuums eine besondere Verstärkung erfahren müßte. Doch davon später.

Unterdes sei es uns gestattet, über das Wesen der Organminderwertigkeit, das schon im vorliegenden stellenweise beleuchtet erscheint, im Zusammenhange folgendes nachzutragen: Wir müssen bloß zum Zwecke einer einfacheren Übersichtlichkeit zwei Formen namhaft machen, in denen sich die Minderwertigkeit eines Organes ausdrückt, die morphologische und die funktionelle Minderwertigkeit. Beide sind in der überwiegenden Anzahl der Fälle gleichzeitig vorhanden. Als dritte Form, auf welche ich in dieser Studie weniger Gewicht lege, möchte ich die „relative“ Minderwertigkeit bezeichnen, die sich bloß durch den

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/20&oldid=- (Version vom 31.7.2018)