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umschlugen. Nunmehr besteht seit 6 Tagen Obstipation. Dabei fühlt sich Patientin elend, leidet an Üblichkeit, Wallungen, häufigen Angstanfällen und heftigem Urindrang. Den gleichen Zustand behauptet Patientin schon öfters durchgemacht zu haben. Die Untersuchung ergibt einen verhältnismäßig dürftigen Befund: das Abdomen zeigt geringen Meteorismus; keine Druckempfindlichkeit, keine Temperatursteigerung. Die Harnanalyse ist negativ. Spontane Schmerzen hat Patientin nie gehabt, kein Erbrechen. Die inneren Organe sind gesund. Auffallend war der Mangel des Gaumenreflexes und des Bauchdeckenreflexes, — der Rachenreflex erwies sich als schwach, Konjunktivalreflex normal. Die Anamnese bot die Lösung. Patientin war als Kind sehr ungeberdig und hat häufig an Kopfweh und Stuhlverstopfung gelitten. Mit 15 Jahren litt sie an heftigen Anfällen von Singultus. Patientin stößt mit der Zunge beim Sprechen an. Der Vater starb an Diabetes, ein Bruder war Bettnässer und behielt dieses Leiden sowie Stuhlinkontinenz bis ins 12. Lebensjahr. Eine Schwester lebt in unglücklicher Ehe und leidet zeitweilig an Anfällen von Bewußtlosigkeit. Aus der Analyse dieses Falles wäre hervorzuheben: die hereditäre Organminderwertigkeit bei Vater, Bruder und Patientin und die deutliche Sprache der Frühanamnese, Stuhlverstopfung bei der Patientin, Incontinentia alvi beim Bruder sowie Lispeln beim Sprechen, das nach der Aussage der Patientin in der Kindheit besonders stark gewesen ist. Der Zustand der Patientin, die also eine eklatante Darmminderwertigkeit aufweist, gehört nach der heutigen Nomenklatur ins Gebiet der Hysterie, deren Entwicklung allerdings dürftig ist. Bei der Schwester scheint diese Seite des Krankheitsbildes deutlicher entwickelt zu sein.

Richard v. R., ein gesunder Mann von 30 Jahren, litt in seinem 5. und 6. Jahre an heftigem Augenblinzeln. Später verschwand dieser häufig vorkommende Kinderfehler spurlos. In der Familie keine Augenerkrankungen. Ein Bruder, Julius v. R., ist ein bekannter, sehr begabter Maler, der mir berichtet, daß er in der Kindheit äußerst empfindliche Augen hatte, insbesondere helles Licht nicht vertragen konnte. Im 7. Lebensjahre überstand er eine lang anhaltende Conjunctivitis lymphatica. Dieser Fall ist in zweifacher Hinsicht interessant. Er zeigt, daß eine Organminderwertigkeit auch ohne sonderliche Erkrankung in der Familie bestehen kann. Andrerseits ist hier die höhere Ausbildung des minderwertigen Organes zum Künstlerauge wahrzunehmen.

Frau Elsa S., 24 Jahre alt, litt bis in ihre spätere Kindheit an heftigem Augenblinzeln. Ein Bruder der Dame ist hochgradig myopisch, der Vater war gegen Ende seines Lebens fast völlig erblindet. Auch

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Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/41&oldid=- (Version vom 31.7.2018)