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aus einer fettleibigen Familie, in der Obstipation gerade nicht vorherrscht. Seit seiner Jugend ist Patient von Afterfissuren gequält, die jeder konservativen Behandlung bisher getrotzt haben. Ein Sohn zeigte Epignathie und starb im Alter von 15 Jahren im diabetischen Koma. Die Kindheitsanamnese des Sohnes ergab Incontinentia alvi bis ins 5. Lebensjahr und Lispeln als Sprachfehler. Beim Vater mangelnder Gaumenreflex, desgleichen bei der Tochter, die an einer schweren Hysterie erkrankt ist und eine Verkürzung der Oberlippe zeigt. — In diesem Falle finden wir neben den oralen Stigmen bei Sohn und Tochter, von denen dieses Kapitel handelt, Zusammenhänge, die in der Literatur mehrfach erwähnt sind, aber unerklärt blieben. Wir meinen das Verhältnis des Diabetes zur Fettleibigkeit, zur Neurose und zur Zahnverderbnis. Allen dreien kann, wie ich mich oft überzeugt habe, eine Minderwertigkeit des Nahrungsapparates zugrunde liegen, die im ersten Falle in sich selbst kompensiert, überkompensiert erscheint, im zweiten Falle (siehe später) die zugehörigen Nervenbahnen miteinbezieht und sich nur im dritten Falle unverhüllt deklariert. Der dabei mangelnde Gaumenreflex legt uns den Gedanken einer wenig exakten Ausbildung des zugehörigen Reflexapparates nahe, eine Hemmung, die sich bei Diabetes weiterhin im Mangel des Patellarsehnenreflexes aussprechen kann. —

Das periphere Stigma braucht durchaus nicht von besonderer Art zu sein. Ein anderer Schluß als der auf Minderwertigkeit des Ernährungstraktes ist, wie schon öfters betont wurde, unzulässig. Und vollständige Gewissheit ist erst aus der Vielheit der Minderwertigkeitssymptome zu gewinnen, was im allgemeinen nicht allzu schwer fällt. Dafür möge folgender Fall ein Beispiel bieten:

Käthe H., 24 Jahre alt, hat vor 5 Jahren schon fast sämtliche Zähne des Oberkiefers eingebüßt und trägt ein falsches Gebiß. Patientin kommt zur Behandlung infolge von Appetitlosigkeit, die bereits seit 6 Monaten anhält. Es finden sich weder spontane Schmerzen noch Druckempfindlichkeit. Während der 6monatlichen Periode der Appetitlosigkeit ist dreimal Erbrechen aufgetreten, auch dieses ohne Vorangehen von Schmerzen. Patientin gibt an, vor 4 Jahren einmal Blut gebrochen zu haben. Als Kind hat sie an häufigem Erbrechen gelitten und ist zuweilen „vor Üblichkeit“ bewußtlos umgesunken. Die gegenwärtige Erkrankung soll sich an heftige Aufregungen angeschlossen haben. Der Befund an den inneren Organen war negativ. Aus der Symptomatologie dieser Appetitlosigkeit soll noch ein besonderer Ekel vor Fleisch hervorgehoben werden. Die Abmagerung während der Erkrankung wird mit 3 Kilo Gewichtsverlust angegeben. Gaumen- und Rachenrcflex zeigten sich gesteigert.

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/49&oldid=- (Version vom 31.7.2018)