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die Nase singt, vor Anreiz den Urin nicht bei sich halten.“ Wir müssen bezüglich unseres Standpunktes auf das an entsprechender Stelle Gesagte verweisen und betonen nochmals, daß die Enuresis wie jeder andere Kinderfehler die funktionelle Seite der Organminderwertigkeit darstellt. Dem mangelhaft dem Milieu gehorchenden Organ ist ein ursprünglich minderwertiger psychomotorischer Überbau übergeordnet, der bei jeder psychischen Mehrbelastung, auch beim Spiel oder Lernen, versagen kann, der eine Zeitlang nur dann zur kulturellen Funktion des Organes ausreicht, wenn ein dauerndes Interesse, eine Binnenaufmerksamkeit, die sonst spielerische Tätigkeit des Organes überwacht. Die Erledigung des Kinderfehlers geschieht durch Kompensation im zugehörigen psychomotorischen Überbau und seinen Bahnen, was zu bedeutsamen Verstärkungen der Gesamtpsyche, aber auch zu vielerlei Störungen führen kann, die im Wesen der Kompensation gelegen sind. Immer aber trägt die Psyche die Spuren der enuretischen Konstitution an sich und dies auch in Fällen, wo sich die Konstitution nicht im Kinderfehler äußert, sondern bloß in den anderen Zeichen der Organminderwertigkeit. Dem überstürzten, gesteigerten Ausbau der Reflexbahnen fallen das Zappeln mit den Beinen, das Harnstottern, die Dysurie, die Harnretention, die unwillkürliche Entleerung der Kinder zur Last, Erscheinungen, die wir bei Hysterie wiederfinden, soferne sie der Minderwertigkeit der Harnorgane ihren Ursprung verdankt, während uns die Astasie und Abasie der Hysterischen zuweilen die motorische Schwäche des Segmentes aufdeckt, die ursprünglich auch der Blasenfunktion anhaftete. Die Enuresis der Idioten zeigt uns die ganze Unfähigkeit ihres minderwertigen Zentralnervensystemes zur Kompensation.

Dem Zusammenhang von Enuresis und Epilepsie dürfte eine einseitige Überkompensation im gesamten zentralen Reflexmechanismus zugrunde liegen, der sich aus dem Kompensationszwang infolge von mehrfachen Organminderwertigkeiten herleitet. Das große Schlafbedürfnis, die besondere Schlaftiefe der Enuretiker entspricht nur dem gesteigerten Verbrauch psychischer Kraft, die normale Arbeit der Schule, des Lebens kann sich oft schon als Überbürdung fühlbar machen. Pavor nocturnus in der Kindheit, der recht häufig bei enuretischer Konstitution auftritt, entspringt dem übergroßen Zärtlichkeitsbedürfnis dieser Kinder, das sich des Nachts, im Schlafe, im Finstern in Angst und Schreien entladet. Die Ängstlichkeit, die fast jedem Enuretiker in der Kindheit anhaftet, ist ein allgemeiner Ausdruck seiner Hilflosigkeit dem minderwertigen Organ gegenüber und haftet oft auch dem Erwachsenen noch an. Zu seinen sonstigen Charakteren im späteren Leben, Furcht

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/90&oldid=- (Version vom 31.7.2018)