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Regierung hat durch ihre letzten Maßregeln endlich selbst dafür gesorgt, daß man jetzt auch in Armenien, bis in das letzte Dorf weiß, was die armenische Frage ist. Sie hat es ihr ja durch Anschauungsunterricht beigebracht, daß für die Türkei und auch Europa „armenische Frage“ nichts anders als Ausrottung des armenischen Volkes bedeutet. Wir fragen noch einmal: Giebt es ein Recht der Notwehr? Und wenn das, will man die Armenier, wenn sie jetzt an eine nationale Erhebung denken könnten, immer noch als eine verworfene Bande von Briganten ansehen? Aber, Gott sei Dank! sagt der Diplomat, wir haben ja eben gehört, daß die Armenier dazu nicht mehr imstande sind; denn um einen Kampf zu führen, ist zweierlei nötig: Erstens muß man etwas zu essen haben, und zweitens muß man Waffen haben, und beides haben sie ja glücklicherweise nicht. Wie aber, wenn jemand, der beides, Geld und Waffen hat, auf den Gedanken käme, den Armeniern zu geben, was ihnen fehlt? Das Dritte, was noch nötig wäre: einen verzweifelten Mut, würden sie schon aufbringen. Denn ob sie mit der letzten Rinde Brot oder mit den Waffen in der Hand sterben, das wird ihnen schließlich gleichgültig sein.

Es scheint uns dringend notwendig, daß sich Europa mit dem Gedanken an einen baldigen Wiederausbruch der armenischen Unruhen ernstlich beschäftigt, denn diesmal wird es wahrscheinlich so sein, wie es die Türkei das erste Mal hat glauben machen wollen, daß es sich um eine armenische Revolution handele. Denn der „Jemand mit Geld und Waffen“ wird nicht mehr lange auf sich warten lassen, ja wenn man den neuesten Nachrichten glauben darf, ist er schon auf dem Platze. Wir sind weit entfernt, es Rußland zu verargen, wenn es sich entschließt, den Schutz der armenischen Christen, den ihm England auf dem Berliner Kongreß abgejagt hat und zuguterletzt ebensowenig als die andern Garantiemächte hat leisten wollen, nun seinerseits in die Hand nimmt. Ein grausames Spiel ist es allerdings gewesen, daß Rußland trieb, als es in den letzten Monaten an der englischen Politik Vergeltung übte und sie ihre Ohnmacht fühlen ließ; grausam darum, weil nicht England, sondern Armenien den Preis für den diplomatischen Sieg bezahlen mußte.

Es ist ein regelrechtes Stiergefecht, welches von den diplomatischen Toreros ausgeführt wird. Mit dem roten Tuch der Reformen wurde

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/120&oldid=- (Version vom 31.7.2018)