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Und plötzlich sieht er an den Fenstern
Ein Lichtlein wandern hin und her;
„Ha!“ – ruft er – „bin ich bei Gespenstern,
So schütze mich des Kreuzes Wehr!“

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Und ohne Furcht, mit keckem Schritte

Steigt er die Wendeltrepp’ hinan
Und kommt in eines Ganges Mitte,
Ein Söller lehnet sich daran.

Zwölf weiße Marmorbilder stehen

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Ringsum in Blenden, Geistern gleich,

Und dumpfe, kalte Lüfte wehen
Als kämen sie vom Schattenreich.

Er öffnet ein Gemach; am Tische,
Bei einer Lampe mattem Schein,

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Bleich wie der Marmor in der Nische,

Sitzt eine Jungfrau zart und fein.

Der Schwermuth stille Trauer waltet
Auf ihrem holden Angesicht,
Sie hält die Hände fromm gefaltet,

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Es glüht ihr Aug’ von Himmelslicht.


Sie neigt sich freundlich vor dem Ritter,
Und scheint gerührt von seiner Noth;
Sie geht und holt aus einem Gitter
Zu seiner Labung Wein und Brot.

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Doch, was der Gast auch immer sage,

Sie gibt mit keinem Wort sich kund,
Sie sieht ihn an bei jeder Frage
Und legt den Finger auf den Mund.

Jetzt führt sie ihn, noch immer schweigend,

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Zur Ruhe in ein Schlafgemach,

Und geht zurück, sich still verneigend;
Der Ritter schaut ihr staunend nach.

Empfohlene Zitierweise:
August Schnezler (Hrsg.): Badisches Sagen-Buch 2. Band. Kreuzbauer und Kasper, Karlsruhe 1846, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Badisches_Sagenbuch_II_160.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)