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darstellenden Visionen (1,12ff.; 4-5; (6,9ff.) 10,1ff.) und in einem Fall ist auch hier die darstellende Vision Selbstzweck geworden. In den Kapiteln 4 und 5 hat sich die Beschreibung der himmlischen Szenerie zu einem so mächtigen und wuchtigen Bilde ausgestaltet, daß darüber die nun folgende weissagende Vision fast in den Hintergrund gedrängt wird[1].

Die weissagenden Visionen, die der jüdischen Apokalyptik nun doch ihren eigentlichen Charakter verleihen, kann man etwa wieder einteilen in solche Visionen, welche den Zustand des zukünftigen Zeitalters resp. der zukünftigen Welt einfach beschreibend darstellen, und solche, welche die Zukunft, die zu jenem Ende führt, andeutend enthüllen. Zu jenen ersteren Visionen gehören Schilderungen wie die des zum Weltgericht erscheinenden Gottes, mit der das Danielbuch die jüdische Phantasie so stark beeinflußt hat, oder in unserer Apokalypse die Schilderung der seligen Märtyrer vor Gottes Thron (7,9ff.), oder die des neuen vom Himmel herabkommenden Jerusalems. — Erst in dem im eigentlichen Sinne weissagenden Zukunftsbild entfaltet der Apokalyptiker seine Hauptkunst. Hier gilt es, das apokalyptische Geheimnis zu enthüllen und doch auch zu verhüllen, vom Geheimnis nur wenig den Schleier zu lüften und doch nicht ganz; gerade das nur halb enthüllte Geheimnis erregt ja erst recht das Interesse, spannt die Neugierde und den Scharfsinn der Gläubigen und erfüllt den Leser mit andächtiger Bewunderung und frommen Schauern. Das durchgängige Mittel aber, das der Apokalyptiker bei seinen Zukunftsvisionen zu diesem Zwecke anwendet, ist die Allegorie. Die Traumallegorie oder die allegorische Vision hat ihre Wurzeln bereits im Prophetismus und ist eng verwandt mit der hier ebenfalls hie und da vorkommenden allegorischen Rede. Man kann sich z. B. die berühmte Allegorie Ez 17 von dem großen Adler, der zum Libanon kam und die Zeder hinwegnahm, anstatt als Rede als eine Vision des Propheten denken. Dann hätten wir eine vortreffliche allegorische Vision. So ist IV Esr 4,49f. ein einfaches Gleichnis, das unter dem Bilde eines vorüberrauschenden Regens, hinter dem nur noch einige übrige Tropfen kommen, klar machen soll, wie gering die Tage bis zur Endzeit gegenüber der verflossenen Zeit seien, — tatsächlich in eine allegorische (parabolische) Vision umgesetzt. Nun sieht der Seher tatsächlich die Wolken vorüberrauschen und nur einige Tropfen übrig bleiben. So entsteht die allegorische Vision. Einfachste Beispiele derartiger allegorischer Visionen sind schon im Prophetismus gegeben, so bereits Amos Kap. 7 und 8. Der Seher sieht nur einen einzigen Gegenstand, der für ihn symbolische Bedeutung gewinnt. „Was schaust du Amos? Ich antwortete, einen Korb mit Herbstfrüchten! Da sprach Jahve zu mir: Es kommt der Herbst über mein Volk.“ Bekannt sind auch die beiden kleinen Gesichte im Anfang des Jeremiasbuches. 1,11f.13ff. Das Sacharjabuch setzt sich fast ganz aus einer Reihe derartiger kleiner Bilder, die dann jedes Mal gedeutet werden, zusammen. Diese kleinen allegorischen


  1. Übrigens ist bereits k. 5 nicht mehr einfach darstellende Vision. Der Seher sieht hier bereits teilweise zukünftige Ereignisse, den unmittelbaren Moment vor der Lösung der Siegel des Buches, als gegenwärtig.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Bousset: Die Offenbarung Johannis. Göttingen 1906, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bousset-S008.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)