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Visionen sind gleichsam die Keimzellen, aus denen allmählich die Apokalypse erwächst. Aus der einfachen Allegorie entsteht die komplizierte Allegorie. Eine Menge von Einzelzügen werden zu einem allegorischen Bilde verwoben, — ich erinnere an so komplizierte Allegorien, wie sie etwa Apk 12 oder in der fünften Vision des IV Esra vorliegen. Dabei wird das Bild von einem ruhenden zu einem bewegten, die Einzelzüge reihen sich zeitlich an einander, aus dem allegorischen Bilde wird das allegorische im Traum oder in der Vision geschaute Geschehnis, das dann beliebig weit ausgesponnen werden kann. Die ausführliche Weissagung kann aber auch dadurch erzielt werden, daß eine Menge von Einzelbildern an einander gereiht werden, die dann in ihrer Reihenfolge den Verlauf der Zukunftsereignisse widerspiegeln. Diese Bilder werden dann durch ein Zahlenschema mit einander verbunden. Bestimmte Zahlen spielen durch die ganze Apokalyptik hindurch eine entscheidende Rolle: Drei Reiche, vier Metalle, vier auf einander folgende Tiere, vier apokalyptische Reiter, sieben Siegel, sieben Posaunen, sieben Zornesschalen (sieben Donner), zwölf Vorzeichen des Endes (II Bar 27), zwölf Wolken (II Bar 53ff.), ein Adler mit zwölf großen und acht kleinen Gegenflügeln, (IV Esr 11), siebenzig Weltwochen (resp. zehn Wochen mit je sieben Unterabteilungen) (I Hen 93) — das etwa sind die Schemata, mit denen die Apokalyptiker Ordnung in die Fülle der Gesichte zu bringen suchen. Durch diese Mittel entsteht aus der Einzelvision die wohlgeordnete eine ganze Zeitfolge umspannende Apokalypse.

Die Allegorien kann man nun wieder nach ihrem Gehalt einteilen in frei erfundene Allegorieen und solche, die einen bereits gegebenen Stoff für den dem Apokalyptiker vorschwebenden Gedanken verarbeiten. Die frei erfundenen Allegorieen sind die am einfachsten deutbaren, sie umschreiben eben einfach die von dem Apokalyptiker zu weissagenden Ereignisse und hat man diese gefunden, so löst sich die Allegorie restlos auf. Ein Musterbeispiel einer solchen Allegorie sind etwa die Tiervision des Henochbuches, die bekanntlich in ihren Tiergestalten die gesamten Träger der israelitischen Geschichte vorüberziehen läßt, und die Adlervision des IV Esra, deren Undeutbarkeit an gewissen Punkten wohl sicher nur daher rührt, daß hier eine redaktionelle Umarbeitung eines älteren Bildes stattgefunden hat. Diese reinen Allegorieen tragen im Durchschnitt den Charakter einer ledernen Nüchternheit; eignes, urwüchsiges zu erfinden, war die jüdische Phantasie nicht mehr stark genug. Man wußte sich aber anders zu helfen, man nahm seine Zuflucht zu alten überlieferten geheimnisvollen Vorstellungen, zu älteren Weissagungen und Mythen und deutete in die vorgefundenen Bilder die Geheimnisse der Zukunft hinein, wie man sie von seiner Gegenwart aus verstand. So benutzt Daniel in der Vision des zweiten Kapitels sichtlich den weitverbreiteten Mythus von den vier Weltzeiten und adaptiert diesen für seine Gegenwart. Eine Allegorie, die mit vorgefundenem Stoff arbeitet, läßt sich ebenfalls leicht erkennen. Einmal daran, daß, auch wenn man den Schlüssel zur Deutung der Allegorie richtig gefunden hat, in Einzelheiten doch gewisse Inkonzinnitäten bleiben

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Wilhelm Bousset: Die Offenbarung Johannis. Göttingen 1906, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bousset-S009.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)