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Dogma existierte, daß die Prophetie in dieser späten Zeit erloschen sei, und man in weiten Kreisen gegenüber gegenwärtiger Prophetie mißtrauisch war[1], so beweisen doch auf der andern Seite manche Zeugnisse, daß in gewissen frommen Kreisen, namentlich auch in den niederen Volksschichten, der Glaube an gegenwärtige direkte Offenbarung und Prophetie nicht erloschen war.

Auf eine sehr gewichtige Gegeninstanz wird man allerdings bei dieser Frage immer hinweisen müssen, auf das Selbstzeugnis der Apokalyptiker. Denn durchgehends tragen die Apokalypsen von Daniel an den mit Händen greifbaren Charakter der Pseudonymität. Wir haben in dieser Literatur eine ganze Musterkarte von Pseudonymen. Daniel, Henoch, Moses, die Patriarchen: Abraham, Isaak, Jakob und die zwölf Söhne Jakobs, Salomo, Jesaia, Jeremia, Baruch, Esra werden fruchtbare Schriftsteller. Die immer wieder festgehaltene Fiktion ist dabei, daß diese alten Helden der Geschichte Israels bisher geheimgehaltene verborgene Bücher geschrieben haben. Sie haben diese Worte für die Endzeit bestimmt. „Denn bis zur Endzeit bleiben diese Worte geheim und versiegelt“ Dan 12,9. Nun aber am Ende der Tage sind die Frommen in den Besitz dieses geheimnisvollen Buches gekommen. „Am Ende (der siebenten Woche) werden die auserwählten Gerechten der ewigen Pflanze der Gerechtigkeit auserwählt werden, um siebenfache Belehrung über seine ganze Schöpfung zu empfangen.“ Hen 93,10. Die Apokalyptik gibt sich wenigstens als Buchweisheit, sie will verschollene, geheime Literatur alter vergangener Tage sein. Diese durchgehende Eigentümlichkeit macht sehr mißtrauisch gegen die Annahme, daß hinter den Träumen und Visionen selbsteigne Erfahrung stehe und macht uns geneigt, in dem allen nur eine literarische Form zu erblicken.

Aber auch hier wird man vorsichtig gegen eine zu rasche Formulierung des Urteils sein müssen. Es bleibt möglich, daß in dieser literarischen Form der Apokalyptik ein Kompromiß zwischen der eignen Erfahrung des Apokalyptikers und dem allgemeinen Zeitbewußtsein vorliege. Mochte der Apokalyptiker noch so sehr von der Realität seiner Offenbarungen überzeugt sein, in dem Milieu, das ihn umgab, war man einmal mißtrauisch gegenüber prophetischen Offenbarungen in der gegenwärtigen Zeit. Der Abschluß des Kanons heiliger Schrift war schon zu Beginn der apokalyptischen Zeit weit fortgeschritten. Der Abschluß des Kanons aber setzt immer dem Glauben an fortwirkende, selbständige Offenbarung ein Ende und teilt die Zeiten in eine schöpferische Zeit der Offenbarungen und eine Epigonenzeit, in der Offenbarungen nicht mehr erfolgen. So ist denkbar, daß die Apokalyptiker bei voller Überzeugung von der Realität ihrer Offenbarungen, um diese für die Masse eindrucksvoller und glaubwürdiger zu gestalten, zu dem Kunstmittel der Pseudonymität griffen. War aber einmal diese literarische Form geprägt, so konnte sich ihr so leicht niemand entziehen, wenn er auf Anerkennung seiner Offenbarungen hoffen wollte.


  1. Rel. d. Judentums S. 374.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Bousset: Die Offenbarung Johannis. Göttingen 1906, Seite 014. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bousset-S014.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)