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entweder als mächtiger Herrscher oder als Prophet und Antichrist in Jerusalem erwartet wird, während bei Daniel der gottfeindliche König noch ganz bestimmt als ein auswärtiger Herrscher aufgefaßt wird. Und es darf wohl mit Bestimmtheit behauptet werden, daß dieser Wandel in der Tradition bereits auf jüdischem Boden sich vollzogen hat und nicht erst auf dem Boden der christlichen Überlieferung[1]. Diese Umwandelung der Danielschen Idee wird sich entweder in der letzten Makkabäischen Zeit, wo die Frommen in scharfem Gegensatz gegen ihr eignes Herrscherhaus standen, oder im herodianischen Zeitalter vollzogen haben. Gestalten wie Alexander Jannaeus oder Herodes der Große werden auf die Entwickelung dieser eschatologischen Tradition eingewirkt haben.

Wir können endlich noch einen Schritt weiter zurückgehen bis zum letzten Ursprung jener merkwürdigen Idee und mit großer Wahrscheinlichkeit behaupten, daß jener gottfeindliche Widersacher in der Eschatologie des Judentums gar nichts andres ist als der vermenschlichte Teufel. Älter als diese Idee eines letzten Feindes der Endzeit ist die andre, daß Gott mit dem Teufel selbst in der Endzeit zu kämpfen habe. Dafür läßt sich noch ein Beweis aus dem Namen des „Feindes“ führen. Paulus nennt den Antichrist bereits Beliar (II Kor 6,15), und dieser Name kehrt an zahlreichen Stellen der Antichristüberlieferung wieder. Beliar, Belial aber ist z. B. in den Testamenten der Patriarchen, in den Jubiläen und in der jüdischen Grundschrift der Himmelfahrt Jesaia niemand anders als der Teufel selbst (Religion des Judentums 328-330). Daß am Ende der Zeit Gott mit dem Teufel seinen Kampf auszufechten habe, gehört zur Grundanschauung der Testamente und der Himmelfahrt des Moses und wird in den Evangelien (Worten Jesu) als selbstverständlich vorausgesetzt (Religion des Judentums 240-242). Der Teufel aber ist eine mythische Gestalt, er kann mehr geistig persönlich, aber auch als Ungeheuer, Drache, höllisches Tier vorgestellt werden. Mythologische und theologische Vorstellungen verschiedener Provenienz kreuzen sich hier. So steht hinter dem Tyrannen bei Daniel die mythische Konzeption eines furchtbaren Ungeheuers. So dringen diese mythischen Züge auch in das prinzipiell vermenschlichte Bild des „ἄνθρωπος τῆς ἀνομίας“ wieder ein. Einen solchen mythischen Zug haben wir auch hier in der Erwähnung des Tieres, das aus dem Abgrund auftaucht und mit den beiden (göttlichen) Heroen kämpft und sie tötet; vielen derartigen Zügen begegnen wir in allen den Apokalypsen, in denen die Nerosage mit der Antichristsage verschmolzen erscheint.

Es ist ein Gebiet, wo tausend Fäden hinüber- und herüberschießen und das Einzelne nur im Rahmen des Ganzen durch stetigen Vergleich aller verwandten Erscheinungen einigermaßen deutlich und erkennbar wird. — Wenn


  1. Es bleibt möglich, daß die spezifische Idee des „Antichrist“ erst auf christlichem Boden entstanden ist, da hier naturgemäß dem zum Weltgericht wiederkehrenden Christus der Antichrist gegenübertritt. Doch bleibt es ebenso möglich, daß hier und da die Gegenüberstellung schon im Judentum erfolgte, da Paulus diese schon II Kor 6,15 als bekannt voraussetzt, wenn er Χριστός und Βελίαρ einander entgegensetzt. Denn Βελίαρ (υἱὸς τῆς ἀπωλείας) ist nachweisbar einer der Namen jener widergöttlichen Gestalt (Sibyll. III 63. Bousset, Antichrist 99ff.).
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Bousset: Die Offenbarung Johannis. , Göttingen 1906, Seite 329. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bousset-S329.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)