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Wilhelm Busch: Ut ôler Welt. Volksmärchen, Sagen, Volkslieder und Reime

gebar ein kleines Kind, das war eine Dirne. Sie ward, wie sie wuchs, von Tage zu Tage schöner, so daß sie ein jeder, der sie sah, von Herzen gerne leiden mochte. Den Tag aber vor ihrem fünfzehnten Geburtstage sagt sie auf einmal zu ihrem Vater: »Morgen, Vater, muß ich sterben.« »Mein liebes Kind,« sagte der König, »sprich mir doch nicht von sterben.« »Doch Vater! Ich weiß gewiß, daß ich morgen sterben muß. Eins mußt du mir aber versprechen: daß mein Sarg in der Schloßkirche vor den Altar gestellt und ein ganzes Jahr lang jede Nacht Wache dabei gehalten wird. Wenn sich dann unter der Wache Einer findet, der nichts Schlechtes gethan hat, so kann der mich wieder erlösen.« Das mußte der König versprechen und ihr die Hand drauf geben.

Wie die Königstochter gesagt hatte, so kam es auch. Den andern Tag nahm sie noch von Vater und Mutter Abschied, legte sich und starb und ward darnach kohlschwarz. Der König ließ sie nun in ihrem Sarge in die Schloßkirche vor den Altar stellen mit einer Wache dabei, wie die Prinzessin es verlangt hatte. Des Nachts, da die Glocke gerade Zwölf schlug, fuhr die Prinzessin aus ihrem Sarge, packte die Wache, drehte ihr den Hals um und warf sie in ein finsteres Gewölbe, das da unter der Kirche war. Sobald aber die Glocke Eins schlug, mußte sie wieder in ihren Sarg hinein. In der zweiten Nacht ging es ebenso. Als die Glocke Zwölf schlug, fuhr die Königstochter aus ihrem Sarge, drehte der Wache den Hals um und warf sie in das Gewölbe, das unter der Kirche war. In jeder folgenden Nacht ging es ebenso; jeden Morgen war die Wache verschwunden und kein Mensch wußte, wo sie geblieben war. Nun wollte zuletzt keiner mehr bei der Königstochter wachen. Da ließ der König im ganzen Lande bekannt machen: wer seine Tochter erlösen könnte, der sollte sie zur Frau haben und König werden.

Nun war da ein junger Schäfer mit gelben Haaren, der hieß Jakob, der reiste nach der Königsstadt und ließ sich anstellen als Wache bei dem Sarge der Prinzessin. In der ersten Nacht, da es kurz vor Zwölfe war und der Schäfer daran dachte, daß die andern Wachen alle so sonderbar verschwunden waren, da ward er bange und wollte weglaufen. Da rief eine Stimme hinter ihm her: »Jakob, geh nicht fort, du kannst mich erlösen, wenn du drei Nächte hintereinander an meinem Sarge wachst.« Da kehrte der Schäfer wieder um und versteckte sich unter den Sarg der Prinzessin. Als nun die Glocke Zwölf schlug, fuhr die Königstochter aus ihrem Sarge und suchte die ganze Kirche durch; in dem Augenblick aber, wo sie an den Sarg kam und den Schäfer eben fassen wollte, schlug die Glocke gerade Eins; da mußte sie wieder in ihren Sarg hinein. In der zweiten Nacht, da es wieder bald Zwölfe war und der Schäfer daran dachte, daß es ihm auch ergehen könnte wie den andern Wachen, da ward er bange und wollte weglaufen. Da rief eine Stimme hinter ihm her: »Jakob, geh nicht fort; du kannst mich erlösen.« Als der Schäfer das hörte, kehrte er wieder um und versteckte sich in das Gewölbe, wo die

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Wilhelm Busch: Ut ôler Welt. Volksmärchen, Sagen, Volkslieder und Reime. München: Lothar Joachim, 1910, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Busch_Ut_oler_Welt_010.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)