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Wilhelm Busch: Ut ôler Welt. Volksmärchen, Sagen, Volkslieder und Reime

40. Der Mordgraf.

Vor tausend Jahren oder länger ist mal ein König gewesen, der hatte eine wunderschöne Tochter. Da trug es sich zu, daß zur selben Zeit ein Mann an ihres Vater Hof kam, der nannte sich Graf von Schwarzburg und bewarb sich um ihre Hand, und weil er schön von Ansehn war, so wurde ihm die Prinzessin von Herzen zugethan und versprach ihm die Ehe. »Aber, mein Schatz, wo bist du denn her und wo liegt dein Schloß?« fragte ihn einstmals die Prinzessin. »Mein Schloß«, entgegnete er, »liegt hinter dem Walde in der Haide, da wohne ich ganz allein; wenn du mich da besuchen willst, so komm den Mittwoch, dann will ich sicher zu Hause sein.« Die Prinzessin sagte es zu; ging aber nicht Mittwoch, sondern Freitag; »denn, dachte sie, es wird meinem Bräutigam wohl jederzeit recht sein, wenn ich komme, ihn zu besuchen.« So ließ sie denn am Freitag vier schwarze Pferde vor ihre Kutsche spannen und nahm nur eine einzige Junfer zu ihrer Begleitung mit. Als sie nun an den Rand des großen Waldes kamen, sahen sie ganz einsam in der weiten Haide des Grafen Schloß. Da stieg die Prinzessin, die ihren Bräutigam zu überraschen gedachte, mit ihrer Junfer aus und befahl dem Kutscher zu warten bis sie wiederkämen. Als sie nun vor das Schloß kamen, lag in einer Hütte vor dem Thor ein großer, großer Hund, der schlug mit lauter Stimme drei Mal an. »Hau! Hau! Hau!« und an dem Giebel des Schlosses hing ein Käfig mit einem großen Vogel, der rief drei Mal: »Zurück! Zurück! Zurück!« Dann war wieder alles ganz still. Es ließ sich auch kein Mensch blicken und war so öde und unheimlich da; das Schloß stand so allein auf der weiten Haide; der große Hund, der sonderbare Vogel; die Prinzessin wurde ganz beklommen, so schaurig kam ihr alles vor; doch ging sie weiter und in das Schloß hinein. Da stand auf der Diele ein Klotz, darüber war ein weißes Laken gelegt, und als sie das aufdeckte, so lag ein großes blankes Beil darunter, und der Klotz war über und über voll Blut; die Prinzessin wurde ganz beklommen, so schaurig kam ihr das alles vor; doch ging sie weiter und in den Keller hinein. Da standen viele große Fässer, die waren voll von eingesalztem Menschenfleische, in dem einen die Finger, in dem andern die Arme, in dem dritten die Füße, in dem vierten die Beine, in dem fünften die Rümpfe, aber die Köpfe fehlten. »O weh!« sprach die Prinzessin, »wir sind in einem Mörderhause.« Weil aber alles still blieb, so gingen sie auch noch die Treppe hinauf; in dem ersten Zimmer standen zwei gemachte Betten, in dem zweiten drei, in dem dritten vier, und in dem vierten Zimmer da hingen an den Wänden herum lauter Mädchenköpfe, das konnte man wohl erkennen an den langen Haaren. »O weh!« sprach die Prinzessin; »mein Liebster ist ein Mörder und Mädchenräuber.« Indem daß sie das sagte, sah sie durch das Fenster, wie ein Mann über die Haide dahergeritten kam,

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Wilhelm Busch: Ut ôler Welt. Volksmärchen, Sagen, Volkslieder und Reime. München: Lothar Joachim, 1910, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Busch_Ut_oler_Welt_107.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)