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Frei schaut’ er auf, und alle Sorgen flohn.

„Nur langsam,“ sprach er, „geht ihr Gang von statten,
Drum gehn wir hin. Getrost jetzt, süßer Sohn!“

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Wir waren noch entfernt von jenen Schatten,

Und ihnen etwa steinwurfweit genaht,
Als wir gethan an tausend Schritte hatten.

70
Da drängten Alle sich an’s Felsgestad’

Und standen still und dicht, uns zugewendet,
Wie wen Bedenken hemmt auf seinem Pfad.

73
„O Auserwählte, die ihr wohl geendet,“[1]

Begann Virgil, „wie einst euch Friede letzt,
Den, wie ich glaube, Gott euch Allen spendet,

76
So zeigt uns des Gebirges Abhang jetzt

Und laßt uns einen Weg nach oben sehen,
Denn Zeit verlieren schmerzt den, der sie schätzt.“

79
Gleichwie die Schäflein aus dem Stalle gehen,[2]

Eins, zwei und drei, indessen noch verzagt
Die andern mit gebeugten Köpfen stehen,

82
Bis was das erste that, nun jedes wagt,

Wenn jenes harrt, geduldig die Beschwerde
Des Drangs erträgt und nach dem Grund nicht fragt;

85
So sah ich jetzt von der beglückten Heerde

Die Vordern sich bewegen und uns nahn,
Das Antlitz züchtig, ehrbar die Geberde.

88
Wie sie das Licht zur Rechten meiner Bahn[3]

Getheilt, und, als des Erdenleibes Zeichen,
Die Felsenwand von mir beschattet sahn,

91
Sah ich sie stehn und etwas rückwärts weichen.

Die Andern wußten zwar nicht, was geschehn,


  1. [73. „Wohl geendet“ d. h. bußfertig, wenn auch nicht vollkommen bekehrt, daher sie erst im Fegefeuer getroffen werden.]
  2. 79. Wenn wir in der Hölle die in der Sünde versunkenen Geister allenthalben in Streit und Haß unter sich gefunden haben, so finden wir dagegen die sich läuternden liebevoll verbunden, und sich an einander anschließend. Gewiß ist Liebe die erste Frucht des ernsten Strebens nach sittlicher Freiheit.
  3. 88. Schon in der Hölle waren die Schatten erstaunt, wenn sie bemerkten, daß Dante ein Lebender sei. Auch hier zeigen die Seelen dasselbe Erstaunen. Wir dürfen hierin keine tiefere allegorische Bedeutung suchen, werden aber leicht erkennen, daß dieser Zug ein nothwendiger in der poetischen Gestaltung des Werks ist.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_215.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)