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Dorthin, wo träger ist der Sterne Lauf,[1]
Sowie, der Achse nah’, des Rades Kreisen.

88
Mein Führer sprach: „Was blickst du dort hinauf?

Und ich: „„Nach den drei Lichtern, denn mit ihnen[2]
Geht ja am ganzen Pol ein Feuer auf.““

91
Und Er: „Die vier, die dir heut’ Morgen schienen,

Sind tief jetzt unter’m Horizont versteckt,
Und diese sind an ihrer Stell’ erschienen.“

94
Hier ward ich durch den Ruf Sordells erschreckt:

„Den Widersacher seht!“ Er sprach’s und zeigte[3]
Zur Gegend hin, den Finger ausgestreckt,

97
Wo sich das kleine Thal geöffnet neigte;

Dort war die Schlange, die wohl jener glich,
Die Even einst die bittre Speise reichte.

100
Wie sie daher durch Gras und Blumen strich,

Hob sie von Zeit zu Zeit den Kopf zum Rücken
Verdreht empor und leckt’ und putzte sich.

103
Nicht sah ich, und vermag’s nicht auszudrücken,

Wie die zwei Engel sich bewegt zum Flug,
Doch deutlich sah ich sie herniederzücken.

106
Und wie ihr Flügelpaar die Lüfte schlug,

Entfloh die Schlang’, und jene beiden flogen
Zu ihrem Platz zurück in gleichem Zug.


  1. 86. Dorthin, nach dem Pole, und zwar, da Dante auf der südlichen Hemisphäre[WS 1] sich befindet, nach dem Südpol. Um den Pol haben, nach dem damaligen System, die Sterne in ihrem Kreislaufe nur einen kürzern Weg zurückzulegen, daher sie sich dort mit geringerer Geschwindigkeit bewegen, wie nahe bei der Achse das Kreisen des Rades langsamer ist.
  2. 89 ff. [„Die drei Lichter“ – Glaube, Liebe, Hoffnung, die drei geistlichen Tugenden, Gs. 7, 35. Sie leuchten über der, in die Nacht der Sünde gefallenen Welt, über welcher die vier weltlichen Tugenden (Gs. 1, 24), die im Paradies am Morgen des Menschengeschlechtes strahlten, untergegangen sind, d. h. die gefallene, der Tugend beraubte Menschheit kann sich nur durch Glaube, Liebe und Hoffnung wieder emporheben. – Wie schön ist nebenbei der allgemeine Sinn, der hierin liegt: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigkeit zieren den Morgen unseres Lebens, die Zeit der Kraft und Thätigkeit. Aber am Abend unserer Tage sind es nur Glaube, Liebe und Hoffnung, die uns trösten und zu einem neuen Leben kräftigen können.]
  3. 95. Die Schlange, die unter Gras und Blumen daherstreift und sich putzt und leckt. – S. Anm. zu V. 19.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Hemispäre
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 244. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_244.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)