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Und doch vermagst du kaum dir vorzustellen,

Wie ich die Sonn’ jetzt wiedersah, die sich
Jetzt eben senken wollt’ ins Bett der Wellen.

10
So, gleichen Schritts mit meinem Hort, entwich

Ich aus der Wolk’, als wie aus dunkler Klause,
Zum Strahl, der sterbend schon am Strand erblich.

13
O Phantasie, die du aus ihrem Hause[1]

Weithin die Seel’ entrückst, daß man’s nicht spürt,
Ob rings umher Trompetenschall erbrause,

16
Was regt dich auf, wenn nichts dein Sinn berührt?

Das Himmelslicht erregt dich, das hernieder
Oft selber strömt, oft auch ein Wille führt.

19
Die Arge sah ich, die sich im Gefieder[2]

Des Vogels barg, der ewig Reu’ und Gram
Verhaucht im Klang der süßen Klagelieder.

22
Und ganz zurückgedrängt ward wundersam

Hier meine Seel’ in sich, zu nichts sich neigend,
Und nichts aufnehmend, was von außen kam.

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Darauf erschien, der Phantasie entsteigend,[3]

Ein Mann am Kreuz, so trotzig stolz, wie er
Im Leben war, sich auch im Tode zeigend.

28
Ich sah dabei den großen Ahasver,

Esther, sein Weib, und Mardochai, den Frommen,
In Wort und That – sie standen um ihn her.

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Und dieses Bild zersprang, kaum wahrgenommen,

Gleich einer Blase, die mit kurzem Schein
Im Wasser glänzt, wenn sie emporgeschwommen.

34
Dann zeigte mein Gesicht ein Mägdelein.[4]

  1. XVII. 13–18. O Phantasie etc. Der Dichter leitet mit diesem Ausrufe die Vision ein, die er uns in den nächsten Terzinen erzählt, und erklärt die wunderbare Erscheinung, daß die Phantasie, ohne durch einen äußern sinnlichen Eindruck erregt zu sein, uns aus uns selbst zu dem Fremdartigsten führe, durch das himmlische Licht, welches das Universum durchströmt und oft nach Gottes Willen einen Gegenstand besonders erleuchtet.
  2. 19. Es folgen Beispiele verderblicher Wirkungen des Zorns. – Prokne wurde in eine Nachtigal verwandelt, um ewig ihren Sohn zu beklagen.
  3. 25. Ein Gekreuzigter, Haman (s. das Buch Esther).
  4. 34. Lavinia, Tochter der Amata, die sich aus Zorn und Verzweiflung [293] erhenkte, als sie glaubte, daß Aeneas den Turnus, ihrer Tochter Verlobten, getödtet habe, und nun die Tochter selbst ihr rauben werde. Aeneis XII.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_292.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)