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67
Fühlt’ ich ein Weh’n, wie von bewegten Schwingen,[1]

Im Angesicht, und laut erklang’s, mir nah’:
„Heil den Friedfert’gen, die den Zorn bezwingen.“

70
Der Sonne letzte bleiche Strahlen sah

Ich über uns, gefolgt von nächt’gen Schatten.
Und schon erschienen Sternlein hier und da.

73
„„O, meine Kraft, was mußt du so ermatten!““[2]

So sprach ich still bei mir, denn ich empfand,
Daß sich gelöst der Füße Kräfte hatten.

76
Wir waren auf der höchsten Stufe Rand,

Und standen fest, wie angeheftet, dorten,
Gleich einem Kahn in des Gestades Sand.

79
Aufmerksam lauscht’ ich erst nach allen Orten,

Ob nichts zu hören sei, und wandte nun
Zu meinem Meister mich mit diesen Worten:

82
„„Mein süßer Vater, sprich, welch übles Thun

Führt uns zur Läuterung in diesem Kreise?
Laß nicht die Rede, gleich den Füßen, ruhn.““

85
Trägheit zum Guten,“ Sprach darauf der Weise

Zahlt hier die dort gemachten Schulden erst;
Hier wird der träge Rudrer schnell zur Reise.

88
Merk’ auf, damit du’s deutlicher erfährst,

Weil ungenutzt sonst unser Stillstand bliebe.
Frucht bringt dein Weilen, wenn du dich belehrst: –

91
Nicht Schöpfer, noch Geschöpf ist ohne Liebe,[3]

  1. 67. Dieses Wehen entsteht durch die Flügel des Engels, durch welches wieder ein P verlöscht ist.
  2. 73. Die Ermattung tritt ein, weil das Licht, die Klarheit schwindet, die allein zum Guten Kraft und Ausdauer verleiht.
  3. 91 ff. Der Dichter gibt in den folgenden Versen das Bild der moralischen Construction des Fegefeuers, wie er uns das der Hölle im eilften Gesange des ersten Theils gegeben hat. Um dies zu bewirken, stellt er [nach Thomas von Aquino] folgende Doctrin auf. Die Liebe ist eine doppelte; die natürliche, der Instinkt, und die der Seele, welche von dem durch den freien Willen geleiteten Streben erzeugt wird. Die erste ist unfreiwillig, aber daher auch sicher ihres Gegenstandes. Die zweite wählt bald einen falschen Gegenstand, bald verfolgt sie den rechten Gegenstand ohne Maß, zu träg oder zu heftig. Wählt sie das erste, d. h. das hauptsächliche, das himmlische Gut, und strebt sie nach dem zweiten Gute, d. h. nach [265] irdischem Glücke, mit Maß und Ordnung, dann führt sie zur Tugend, im entgegengesetzten Falle aber zum Laster, welches eine Gewaltthat gegen den Schöpfer ist, der uns zum Guten und zur Freude bestimmte. Die irre geleitete Liebe, welche zum Hasse führt, kann der Mensch nun weder gegen sich (V. 106–108), noch gegen Gott richten (109–111), weil dies dem natürlichen Triebe ganz entgegen sein würde. Die Liebe zum Schlimmen gilt daher nur dem Nächsten. Sie führt zum Hochmuthe (V. 115–117), zum Neide (V. 118–120) und zur Zornwuth (V. 121–123). Diese Liebe, von welcher die Schatten in den drei ersten Kreisen sich läutern, fehlt in der Wahl des Gegenstandes. Weiter oben werden diejenigen geläutert, deren Liebe nicht das rechte Maß hielt, zunächst diejenigen, die in der Liebe zum ersten Gute, dem Göttlichen zu lau, weiter hin diejenigen, die in dem Streben nach irdischen Gütern zu heftig waren.–
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_294.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)