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Den schüchternen, bemerkt, gab sprechend jetzt
Mir neuen Muth, des Sprechens Lust zu stillen.

10
Drum ich: „„Dein Licht, mein theurer Meister, letzt

Mein Auge so, daß es an allen Dingen,
Die du beschreibst, klar schauend sich ergötzt.

13
Doch, süßer Vater, laß es tiefer dringen.

Was ist doch jene Lieb’ – ich bitte, sprich! –
Aus welcher gut’ und schlechte Werk’ entspringen?““

16
„Scharf richte deines Geistes Aug’ auf mich,“

Versetzt’ er, „und den Irrthum jener Blinden,
Die sich zu Führern machen, lehr’ ich dich.

19
Der Geist, geschaffen, Liebe zu empfinden,[1]

Bewegt sich schnell zu Allem, was gefällt,
Wenn Reize sich, ihn zu erwecken, finden.

22
Was Wirklichkeit euch vor die Augen stellt,

Faßt der Begriff, dem Willen es zu zeigen,
Der dann dorthin nur sich gerichtet hält.

25
Und diese Richtung, dies Entgegenneigen,

  1. [19–75. Eine Reproduction der aristotelisch-scholastischen Lehre von den Grundkräften der Seele, welche eines der hervorragendsten Beispiele ist, wie unser Dichter selbst rein philosophische Dinge schön, bilderreich und poesievoll zu sagen versteht. – Was den Inhalt betrifft, so bemerken wir kurz Folgendes. Dante geht hier, immer in Form der Befragung Virgils, auf den psychologischen Nachweis der, eben zuvor in Ges. 17 gegebenen, moralischen Eintheilung des Fegefeuers zurück. Die Seele, sagt er, ist (in potentia) fähig, allem ihr Wohlgefälligen sich zuzuwenden; sie wird ihm aber erst zugewendet, wenn ein Wohlgefallen an etwas wirklich (actu) vorhanden ist, indem die Auffassungskraft es ihr zeigt. Dann wird der vorherige potenzielle Wille zum thatkräftigen Willen – was Dante die Liebe des Geistes zu den Dingen nennt, die aus dem „Gefallen“ an den Dingen den Wunsch nach dem Besitz, und daraus die „Bewegung des Wollens“ (V. 31 f.) im Geiste erzeugt. Diese Liebe ist aber an sich noch weder gut noch böse, wird also das Eine oder das Andere erst auf die im vorigen Gesang angegebene Weise. Wie zwar in der Seele, der „wesentlichen Form des Menschen“, die, selbst unkörperlich, nur duch ihre Wirkungen sich erkennbar macht, jene Liebe, jenes Urverlangen und Urbegehren selbst entsteht, wird uns erst jenseits klar werden (Beatrix; V. 55 ff., 46 ff.) Gewiß ist aber, daß wir neben jenem angeborenen und noch unbestimmten Urdrang (nach dem Guten im Allgemeinen) auch noch eine „Kraft des Rathes“ (consilium) in uns fühlen, welche somit die Freiheit und Verantwortlichkeit unserer Wahl (consensus), unserer Handlungen, bedingt, V. 45, 70.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 297. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_297.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)