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Sobald sich des Sirocco Schwingen regen.

22
Schon war ich mit langsamem Schritt genaht,[1]

Und bald so dicht vom alten Hain umschlossen,
Daß nicht zu sehn war, wo ich ihn betrat.

25
Da sieh die Bahn durch einen Bach verschlossen,[2]

Der linkshin, mit der kleinen Wellen Schlag
Die Gräser bog, die seinem Bord entsprossen.

28
Das reinste Wasser hier, am klarsten Tag,

Trüb scheint es und vermischt mit fremden Dingen,
Vergleicht man’s dem, wo nichts sich bergen mag,

31
Obwohl, da Schatten ewig es umringen,

Es dunkel, dunkel strömt und nie hinein
Der Sonne noch des Mondes Strahlen dringen.

34
Es stand mein Fuß, doch jenseits in den Hain

Ließ über’n Fluß ich meine Blicke schreiten,
Und sah dort mannigfache grüne Mai’n.

37
Und mir erschien – so stellt dem Blick zu Zeiten

Sich unversehn Erstaunenswerthes dar,
Den Geist von allem Andern abzuleiten –

40
Ein einsam wandelnd Weib, das wunderbar[3]

  1. 22. In diesen Aufenthalt menschlicher Glückseligkeit ist der Dichter mit langsamen Schritten gelangt, und sieht nicht, wo er hineingekommen. Denn nicht der einzelne Punkt, über welchen er hineingeschritten, ist es, der ihn dahin geführt hat, sondern seine ganz umgewandelte Stimmung und Richtung. Aber nicht vom Schlaf berückt ist er hineingekommen, wie in den Wald der Irrthümer. (Vgl. Hölle Ges. 1, V. 10 ff.)
  2. [25. Der Bach ist, wie wir später erfahren, ein Doppelstrom aus einer Quelle: an dieser Stelle die Lethe, welche die Erinnerung der Sünde wegnimmt und weiter oben in entgegengesetzter Richtung die Eunoë, welche das Gedächtniß des Guten stärkt. Beide Beziehungen sind hier schon leis und sinnig angedeutet, die eine in V. 31 ff., die andre in V. 28. Daher auch Lethe noch den Dichter vom eigentlichen Paradies trennt, bis er daraus getrunken, Ges. 31, 101 ff., sowie endlich die Eintauchung in die Eunoë dem Aufflug in den Himmel unmittelbar vorangeht. Ges. 33, 142 ff.]
  3. [40. Diese schöne Frau, die in der Folge Matilde (Matelda) genannt wird, fassen wir am Einfachsten als eine Wiederholung der Idee der Lea in Ges. 27, 97 ff. Wie dort jener die Rahel, so würde [356] hier dieser die bald erscheinende Beatrix als Gegenbild entsprechen. Und was dort im Traum ahnungsvoll sich vorbildet, das würde hier sich real vollziehen und zur Wirklichkeit werden, nemlich, daß Dante, daß der geläuterte Gläubige, nun wirklich am Ziel jener christlichen Vollkommenheit anlangt, welche in Ges. 27 definirt worden ist. Damit ist die Function ganz übereinstimmend, welche wir Matilden hier und in der Folge zugewiesen sehen. Sie ist die Hüterin, gleichsam der Eingang des irdischen Paradieses, d. h. des vollkommenen Zustandes; sie führt, belehrt den Dante, weist ihn auf Beatrix, und diese wieder weist ihn zu ihr, damit sie ihn in Lethe’s Fluten tauche. Also offenbar ein sich ergänzendes Wechselverhältniß, bei welchem der einen der beiden Frauen die thätige, der andern die rein innerliche, beseligende Seite zugewiesen ist. – Nicht so sicher zu bestimmen ist, wer diese Matelda ursprünglich gewesen, welche die ihr zu Grunde liegende historische Person sei? Denn, obwohl stets Allegorie, so hat doch Dante niemals solche ohne geschichtliche Unterlage. Man muß sich nun hier bescheiden zu sagen, daß es möglich ist, Dante habe zunächst die berühmte Markgräfin von Toskana, die Freundin Gregors VII. im Auge gehabt, so wenig deren Wirksamkeit für die weltliche Macht des Papstthums in Dante’s Sinn gewesen sein kann. Mit mehr Recht aber scheint uns Notter auf die individuell warme Schilderung der Matilde in 28, 46–60; 64–66; 73–75: 29, 1 aufmerksam zu machen und zu folgern, daß eine persönliche nach V. 49 ff. früh verstorbene Geliebte des Dichters, die im neuen Leben genannte „schöne Mitleidige“ – aber nicht die des Convito! – die Farbe zu dem reizenden Bild hergegeben habe, während vielleicht der Name absichtlich von der Markgräfin oder der Nonne Mechtild zu Eisleben entlehnt sein möge. – Sei dem wie ihm wolle, jedenfalls müssen wir dem Dichter für eine – neben der allegorischen Bedeutung – so poesie- und lebensvoll gezeichnete Gestalt höchlich Dank wissen, da sie den Gang der Entwicklung auf’s Anmuthigste belebt.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 355. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_355.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)