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Der drüben weint, damit sie klar beweise,
Daß große Schuld auch große Schmerzen macht.

109
Nicht durch die Kraft allein der ew’gen Kreise,

Die jedes Wesen zu dem Ziele lenkt,
Das ihm sein Stern gesteckt für seine Reise:

112
Durch das auch, was der Gnade Regen schenkt,[1]

(Der aus so hohem Dunstkreis, daß zu schweben
Dahin kein Blick vermag, sich niedersenkt,)

115
War dieser einst in seinem neuen Leben[2]

Gar hoch begabt, um ganz zur Trefflichkeit
Durch recht gewöhnte Kraft sich zu erheben.

118
Doch wilder wird in schnöder Ueppigkeit

Jedweder schlechte Same sich entfalten,
Je kräft’ger ist des Bodens Fruchtbarkeit.

121
Wohl wußt’ ich ein’ge Zeit ihn festzuhalten,

Indem ich ihm die jungen Augen wies;
Da ließ er gern als Führerin mich walten.

124
Doch hatt’ er, als ich kaum die Welt verließ,

Zum bessern Sein zu gehn, sich mir entzogen,
Indem er Andern ganz sich überließ.

127
Als ich vom Fleisch zum Geist emporgeflogen,

Und höh’re Tugend, höhern Reiz empfahn,
Da war er minder hold mir und gewogen.

130
Er wandte seinen Schritt zur falschen Bahn,[3]

  1. [112 ff. Möglichst wörtlich. Nicht nur Naturgaben aus irdischer Sternenhöhe – nach Dante’s öfters erwähnter astrologischer Ansicht – sondern auch Gaben der Gnade werden dem Menschen in die Wiege gelegt, welch’ letztere als ein himmlischer Regen ihre Nahrung „aus einem höheren Dunstkreis“ zieht, d. h. aber aus keinem Dunstkreis, sondern aus dem ewigen himmlischen Lebenslicht.]
  2. 115. In seinem neuen Leben, in seiner Jugend, als ihm ein neues Leben durch Beatricen aufgegangen war.
  3. [130. Die „Jugendverirrung“, welcher Dante, nach Beatricens Tod 1290 bis zu seiner Verheirathung 1292, unterlag, ist schon zu Hölle, 2, 53 erwähnt. Unsre Stelle mit Ges. 31, 52–60. scheint uns ein Hauptbeleg, daß dieselbe mit Recht dort nicht nur symbolisch als das „Abkommen von der Betrachtung des Göttlichen“, sondern auch wirklich als ein Leben der Verweltlichung, des Genusses und eitler Liebe gefaßt worden ist. Dabei darf man aber, eingedenk der schonungslosen Schärfe, mit der Dante auch seine kleinsten Fehler zu geißeln pflegt, nicht gleich an das Aergste denken. – Vgl. des Näheren [373] über diesen, etwas dunklen Lebensabschnitt Dante’s, sowie über sein ganzes Verhältniß zu Beatrix und nachfolgende Heirath, in unserer öfters angeführten Einleitungsschrift zur göttl. Kom., I. Abschnitt, „der Dichter“, S. 4–8.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 372. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_372.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)