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82
So ich; und über mich gebogen dort[1]

Stand jetzt die Schöne, wie um mein zu hüten,[2]
Die mich geführt entlang des Flusses Bord.

85
„„Wo ist Beatrix?““ rief ich, und mir glühten

Vor Angst die Wangen. „Auf der Wurzel“, sprach
Die Schöne, „sitzt sie unter neuen Blüten.

88
Sieh hin, wer sie umgiebt. Dem Greifen nach

Entflohn empor die Anderen, mit Sange,
Der süßer, tiefer klang, als dort am Bach.“

91
Ob sie noch mehr gesprochen und wie lange,

Nicht weiß ich es, denn mir im Auge stand
Sie, die mein Ohr versperrte jedem Klange.

94
Sie saß allein auf jenem reinen Land,

Wie’s schien, zur Hut des Wagens dort gelassen,
Den an den Baum der Zweigestalt’ge band.


  1. [82. Also darin liegt der Sinn und die Bedeutung des plötzlichen Schlummers unsres Dichters, daß er, wie damals die Jünger, durch einen verzückten Vorschmack der Vollendung gestärkt werde, das bevorstehende Gemälde des Schicksals der Kirche zu erblicken. Nachdem nämlich Christus und sein Gefolge verschwunden sind V. 88, läßt die vom Wagen abgestiegene Beatrix dem Dichter jenes grause Bild unter Anlehnung an Ezechhiel 17, 3 und Offenb. 12, 13, 17, in Art einer Vision mit abschließender Weissagungsrede schauen. Auch hierin liegt wieder eine sinnbildliche Beziehung: Es handelt sich nämlich jetzt um die Zeit der Kirche, in welcher der Herr scheinbar dieselbe verlassen hat und nur seine unsichtbare Gnade (Beatrix) mit den zweimal sieben Tugenden und Geistesgaben als unverlierbare Güter, die kein Sturm entreißen kann (V. 99), ihr noch geblieben sind. Daß hierbei Beatrix vom Wagen absteigt, da jetzt nicht mehr die Glorie der himmlischen Gemeinde zur Erscheinung kommen soll, werden wir ganz erklärlich finden. Aber warum sitzt sie „an der Wurzel der neuen Blüten“, V. 87 d. h. des, wie wir hörten, durch Christum neu erblühten Baumes? Es ist hier nöthig, auf die erste Bedeutung des Baumes zurückzugehen und den Sinn zu finden, daß die göttl. Gnade auch in Zeiten des Abfalls unverrückt auf den Gehorsam gegen Christum weist, und somit, wenn auch der Baum selbst, d. h. die rechte äußere Ordnung, verlassen wird (wie es V. 157 geschieht), doch durch beständige Hindeutung auf jene innere Lebens-Norm die Kirche vor dem Untergang „behütet“ V. 95 und zur rechten, auch äußeren, Ordnung zurückzuführen bestrebt ist. Somit bleibt also, bei den sich implicirenden beiden Gesichtspunkten des „Gehorsams“ und des „Kaiserthums“, der Sinn des Baumes auch hier im Grund derselbe, als der er bisher und auch künftig hervortritt.]
  2. [83. Die Schöne = Matilde.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 385. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_385.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)