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Was nur das Herz ersehnt – und dort nur findet
Sich jeder Theil da, wo er ewig war,

67
Weil jener Kreis sich nicht im Raum befindet;

Doch unsrer Leiter Höh’ erreichet ihn,[1]
Daher sie also deinem Blicke schwindet.

70
Als sie dem Jacob einst im Traum erschien,

Sah er die Spitze bis zum Himmel streben,
Und drauf die Engel auf- und niederziehn.

73
Jetzt mag man nicht den Fuß vom Boden heben,

Um sie zu steigen, und bei Schreiberei’n[2]
Bleibt an der Erde träg’ mein Orden kleben.

76
Denn Räuberhöhlen sind, was einst Abtei’n,

Und ihrer Mönche weiße Kutten pflegen
Nur Säcke, voll von dumpf’gem Mehl, zu sein.

79
Kein Wucher ist so sehr dem Herrn entgegen,

Als jene Frucht, auf die die Mönch’ erpicht,[3]
Drob sie im Herzen solche Thorheit hegen.

82
Das, was die Kirche wahrt, gehört nach Pflicht

Den Armen nur zur Lind’rung der Beschwerden,
Nicht Vettern, noch auch schlechterem Gezücht.

85
Schwach ist des Menschen Fleisch, so, daß auf Erden[4]

Ein guter Urspung nicht genügen kann,
Bis Eichensprossen Eichenbäume werden.


  1. [68. Die Leiter ist also das Symbol der Contemplation, welche den Menschen, soweit dies auf Erden möglich, zum Schauen Gottes emporführt.]
  2. [74. In die vortreffliche, mild-ernste Regel der Benediktiner (weiße Ordenstracht! dah. V. 93) war neben Handarbeit und Landescultur auch die wissenschaftliche Thätigkeit mit aufgenommen, in Folge dessen dieser Orden auch durch die Bewahrung der Denkmale des Alterthums ein so großes Verdienst sich erwarb. – Auf die Ausartung nun auch dieser cultivirenden Wirksamkeit in gedankenloses Manuscript-Abschreiben ohne Wahl mag sich unser Vers beziehen.]
  3. 80. Jene Frucht, weltlicher Reichthum.
  4. 85–87. Der Benediktiner-Orden war seiner Stiftung nach gut, artete aber in der Folge aus. Weil die Menschen sinnlich und leicht verführbar sind, genügt die Trefflichkeit des Stifters und der Stiftung nicht, um diejenigen, die ihr angehören, auch gut zu erhalten. Nicht so lange Zeit dauert der Einfluß des Stifters, als erforderlich ist, daß eine Eiche zum Baume heranwachse.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 533. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_533.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)