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25
Er fleht zu dir, ihm Kräfte zu verleihn,[1]

Daß er die Augen höher heben könne,
Und seinen Blick für’s höchste Heil zu weihn.

28
Und ich, der ich so für sein Schauen brenne,

Daß ich dem eig’nen nie mehr Glut geweiht,
Ich fleh’, und das, was ich gefleht, vergönne!

31
Jedwede Wolke seiner Sterblichkeit

Sei weggebannt durch dein Gebet! Entfalten
Soll sich ihm höchste Wonn’ und Herrlichkeit!

34
Noch bitt’ ich, Königin, dich, die du walten

Kannst, wie du willst, in ihm und solchem Sehn
Gesund des Herzens Neigung zu erhalten.

37
Laß ihn der ird’schen Regung widerstehn;[2]

Sieh Beatricen, sieh so viel Verklärte
Mit mir zugleich, die Hände faltend, flehn!“

40
Die Augen, die Gott lieb und werth hält, kehrte

Sie fest dem Redner zu und zeigt’ daran,
Ihr sei das fromme Flehn von hohem Werthe.

43
Zum ew’gen Lichte wandten sie sich dann,[3]

Zu dem die Blicke – glaubet sicher! – senden
Nie ein Geschöpf mit solcher Klarheit kann.


  1. [25. Kräfte zu verleihen – nicht aus sich, sondern von oben geholte Kräfte V. 32, 43; S. dort.]
  2. [37. Nämlich nach seiner Rückkehr in’s Leben, da nicht die Sterblichkeit selbst von ihm jetzt schon genommen werden kann. Vgl. die mehrfache Besprechung der Stelle auf S. 360.]
  3. [43. Was bedeutet Maria? Diese Frage entscheidet über den eigentlichen Sinn und Inhalt des vorstehenden Gebets und ihre Lösung wird unsre Ansicht von Bernhard, wie schon angedeutet, in dem Falle stützen, wenn hier Maria nicht die kirchliche Mittlerin und Fürbitterin ist. Und dies dürfte sich auch nachweisen lassen. Wenn zunächst zu erinnern ist, daß Maria nur hier, in den letzten Gesängen und im Anfang, Hölle 2, 94 ff., überhaupt in positivem Zusammenhang mit den Entwicklungen des Gedichtes hervortritt, und auch diese beiden Male nicht eigentlich handelnd eingreift: so ist hierdurch schon eine, der kirchlichen gegenüber reduzirte Stellung derselben angezeigt. Nun ist weiterhin gewiß Hölle 2, 94 maßgebend auch für ihre Bedeutung an unsrer Stelle. Dort aber erscheint sie als eine der drei Himmelsfrauen, die sämmtlich allegorische Typen, wenn auch auf geschichtlicher Grundlage, sind, und zwar (s. dort): Lucia die erleuchtende, Beatrix die vollendende Gnadenkraft, [614] Maria aber (nicht also selbst die Gnade, wie z. B. Scartazzini, welcher dann freilich Beatrix als die Kirche, die auctoritas ecclesiastica faßt) sondern die letzte Ursächerin jener zwiefachen, den ewigen Rath ausführenden Gnadenoffenbarung, die ewige Liebe Gottes, der ewige Rathschluß selbst, als tiefstes, bewegendes Princip (a. a. O. V. 96). Als solche thront sie dort über-, steht sie hinter dem ganzen Hergang, den sie eigentlich in letzter Instanz eingeleitet hat (V. 95). Als solche muß sie also consequenter Weise hier wieder gemeint sein, wo das Ende des Weges zum Ausgang zurückkehrt; im Licht dieser gegebenen Grundbedeutung darf und muß auch unsre Stelle erklärt werden und ist wenigstens unläugbar, daß eben V. 43, in welchem offenbar der Nerv des ganzen Vorgangs liegt, vollkommen mit dem Vorausgesetzten übereinstimmt. – Denn das muß zugegeben werden, daß das vorliegende Gebet für sich in seinem Anfange und ebenso die früheren Stellen, Ges. 31, 118 ff., Ges. 32, 85 ff. und vorausdeutend schon 23, 73 ff., eine bedeutende, persönliche Hochstellung und Verehrung der Maria von Seiten Dante’s bezeugen, wenn auch darauf hinzuweisen ist, daß die Mutter Gottes dort vorherrschend nur, als die im Leib Verklärte (25, 127 ff.), von den Engeln und Seligen gegrüßt und gefeiert erscheint, von ihrer Anrufung aber, außer dem, schon erklärten V. 89 in Ges. 23, gar nicht die Rede kommt. Diese tritt erst mit Ges. 33 ein. Ob nun darauf ein besonderer Werth im Sinne Dante’s zu legen sei, daß in dem ganzen Gebet in der That keineswegs von „Fürbitte“ der Maria bei Gott, sondern dem Wortlaut nach, außer V. 32, durchweg, und ausdrücklich V. 25. 34 ff., von selbständiger Gewährung ihrerseits die Rede ist, das mag dahingestellt sein. Das Wichtigste bleibt, daß auf das Gebet nichts anderes erfolgt, als ein Blick Maria vom Beter aus zum ewigen Lichte hin, (vgl. 31, 93), ein stummer Blick, ein Blick, „wie ihn kein (bloses) Geschöpf (nicht: kein anderes) so klar dorthin zu richten vermöchte“ V. 43 ff. – ein Blick, der doch deutlich die Vorstellung eines äußerlichen Fürbitteramtes negirt, ein unmittelbares und innerliches, übercreatürliches und absolutes Einverständniß der Blickenden und des Angeblickten voraussetzt, mithin die Erstere, auf Grundlage ihrer historischen Persönlichkeit, zum Symbol der, das göttl. Wesen erschließenden Heilsliebe selbst vertieft erscheinen läßt. Hierin rechtfertigt sich denn die, schon erwähnte selbständige, gebietende Stellung Mariä in V. 16 ff., 34 ff., sowie 32, 85 ff., 91 ff.; hierin erklärt und bestätigt sich das ganze Gebet im Munde Bernhards und die ihm oben angewiesene Bedeutung nun erst recht, sofern er gerade als Verklärter und einst einer der innigsten, aber auch geläutertsten und gegen Veräußerlichung und Extravaganzen opponirenden, Marienverehrer, (daher Ges. 31, 100, 102), den tieferen Sachverhalt jetzt [615] erkennen kann und muß und denselben hier, zugleich aus des Dichters eigener, ahnender Seele heraus, zum Ausdruck, bezhw. zur vorausschauenden Andeutung bringen soll. – Noch einmal haben wir also hier einen Punkt, wo die dogmatische Denkweise unsres Dichters wenigstens aus der Befangenheit der Zeitanschauung herausstrebt durch die Bemühung, ihre Aeußerlichkeit zu verinnerlichen, wenn auch ihre beengende Hülle noch nicht abgestreift erscheint, was auch in jener Zeit nicht erwartet werden kann. Vgl. zu Ges. 29, Schlußbem. Ges. 32, 84; 19, 33.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 613. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_613.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)