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49
Und lächelnd winkte Bernhard mir, daß sich

Mein Auge nun empor zum Höchsten richte;
Doch, wie er wollte, war ich schon durch mich.[1]

52
Denn stets ward’s klarer mir vor’m Angesichte,

Und mehr und mehr drang durch den Glanz hinan
Mein Blick zum hohen in sich wahren Lichte.

55
Und tiefer, größer war mein Schau’n fortan,

Daß solchen Blick die Sprache nicht bekunden,
Nicht die Erinnerung ihn fassen kann.[2]

58
Wie der, dem nach dem Traum, was er empfunden,[3]

Tief eingeprägt, das Herz noch lang erfüllt,
Wenn das, was er geträumt, ihm schon entschwunden:

61
So bin ich, dem beinah’ sein Traumgebild

Entschwunden ist, und dem die Lust, geboren
Aus jenem Traum, noch stets im Herzen quillt.

64
So schmilzt der Schnee, wenn aus des Ostens Thoren

Die Sonn’ erwärmend steigt; so war beim Wind
In leichtem Laub Sibylla’s Spruch verloren. –

67
O höchstes Licht, das, was der Mensch ersinnt,[4]

  1. [51 mit 48. Schon oben S. 587 und zu Ges. 32, 151 erwähnt und auch für die Auffassung v. V. 43 noch von Bedeutung. Nicht durch Maria oder durch Bernhard, sondern aus innerer Nothwendigkeit nach allem bisher Vorgegangenen wendet der Dichter sein Auge zu Gott und es fühlt in diesem Augenblick sein, bisher ohne Rast suchender und strebender, Geist das erste und einzige Mal das Ende alles Sehnens. Ein herrliches, großgedachtes Wort.]
  2. [57. Vgl. Parad. 1, 9 und oft.]
  3. [58–66. Man bemerke die drei sich folgenden unvergleichlichen Bilder für den Nachgeschmack einer, im detaillirten Inhalt entschwundenen, begeisternden Offenbarung! Das zweite aus Virgil Aen. 3, 445 ff., wo die Sibylle ihre Weissagungen auf das verstreute Laub schreibt.]
  4. [67–106. Zweimal hebt der Dichter neu an in dieser letzten Stelle. [616] Hieraus ergeben sich die zwei Hauptgesichtspunkte für das Folgende. Zuerst erschaut Dante V. 85 bis 105 – eine der genialsten, erhabensten Stellen der Divina Commedia! – die ganze Fülle des creatürlichen Lebens, Wesen und Zufall, die unmittelbare Schöpfung (Ges. 7 Schluß, Ges. 13, 52 ff.) in ihrer Einheit in Gott als der wirkenden Ursache, der Urform, vereint; die Welt liegt vor ihm als das organische Ganze, das in Gott, dem vollkommenen Gute, vollkommen angelegt und nur außerhalb seiner unvollkommen geworden ist (V. 103 ff.; 30, 88 ff. und Vorbem. S. 586 oben.) – Dann schaut er, V. 112 bis Ende, das göttliche Wesen, wie es in sich selbst zum Zweck der Offenbarung in jener wunderbaren Dreiheit sich auseinanderlegt, in deren Ergründung ihm Denken und Phantasie vergeht, bis ein Blitz der Erleuchtung letztlich ihn durchzückt und er plötzlich sein Wollen und Verlangen freiwillig und völlig mit dem göttlichen geeinigt, die höchste Stufe der Beseligung, den kühnsten Wunsch seines ganzen Weges, die unio mystica erreicht fühlt V. 133–145. Vgl. Vorbem. S. 397.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 615. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_615.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)