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dem Ring dieser Fragen ist alles beschlossen; der einzelne soll die frohe Botschaft von der Barmherzigkeit und der Kindschaft hören und sich entscheiden, ob er auf die Seite Gottes und der Ewigkeit tritt oder auf die Seite der Welt und der Zeit. Es ist keine Paradoxie und wiederum auch nicht „Rationalismus“ sondern der einfache Ausdruck des Thatbestandes, wie er in den Evangelien vorliegt: Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium, wie es Jesus verkündigt hat, hinein.[AU 1]

2. Aber so, wie er den Vater kennt, hat ihn noch niemand erkannt, und er bringt den andern diese Erkenntnis; er leistet damit „den vielen“[WS 1] einen unvergleichlichen Dienst. Er führt sie zu Gott, nicht nur durch sein Wort, sondern noch mehr durch das, was er ist und thut, und letztlich durch das, was er leidet. In diesem Sinn hat er sowohl das Wort gesprochen: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken“[WS 2], als auch das andere: „Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zur Lösung für viele.“[WS 3] Er weiß, daß eine neue Zeit jetzt durch ihn beginnt, in der die „Kleinsten“ durch ihre Gotteserkenntnis größer sein werden als die Größten der Vorzeit; er weiß, daß Tausende an ihm den Vater finden und das Leben gewinnen werden – eben die Mühseligen und Beladenen –; er weiß sich als den Säemann, der den guten Samen streut: sein ist das Ackerfeld, sein der Same, sein die Frucht. Das sind keine dogmatischen Lehren, noch weniger Transformationen des Evangeliums selbst oder gar drückende Forderungen – es ist die Aussprache eines Thatbestandes, den er schon werden sieht und mit prophetischer Sicherheit vorausschaut. Die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Tauben hören, den Armen wird das Evangelium gepredigt – durch Ihn: an dieser Erfahrung geht ihm unter der furchtbaren Last seines Berufs, mitten im Kampfe, die Herrlichkeit auf, die ihm der Vater gegeben hat. Und was er jetzt persönlich leistet, wird durch sein mit dem Tode gekröntes Leben eine entscheidende, fortwirkende Thatsache bleiben auch für die Zukunft: Er ist der Weg zum Vater, und er ist, als der vom Vater Eingesetzte, auch der Richter.

Hat er sich geirrt? Weder die nächste Folgezeit noch die Geschichte hat ihm unrecht gegeben. Nicht wie ein Bestandteil gehört er in das Evangelium hinein, sondern er ist die persönliche Verwirklichung und die Kraft des Evangeliums gewesen und

Anmerkung des Autors (1908)

  1. „Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium, wie es Jesus verkündigt hat, hinein.“ – Dieses Wort ist von vielen Seiten aufs schärfste bekämpft worden, aber nicht widerlegt worden. Ich habe nichts an ihm zu ändern. Nur sind die Worte „Wie es Jesus verkündigt hat“, hier gesperrt worden, weil sie von vielen Gegnern übersehen worden sind. Daß Jesus in das Evangelium, wie es Paulus und die Evangelisten verkündigt haben, nicht nur hineingehört, sondern den eigentlichen Inhalt dieses Evangeliums bildet, braucht nicht erst gesagt zu werden. Wie es zu diesem Übergang gekommen ist und inwiefern er zu Recht besteht, zeigen die folgenden Ausführungen, sowohl die sofort sich anschließenden als auch die der übrigen Vorlesungen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vgl. Mt 20,28.
  2. Mt 11,28.
  3. Mt 20,28.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 091. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/095&oldid=- (Version vom 30.6.2018)