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hin und arbeite heute in meinem Weinberg. Er antwortete: Herr, ja, und ging nicht hin. Und er sprach zum Anderen gleich also, und er antwortete: Ich will es nicht thun; darnach reuete es ihn, und ging hin.“[WS 1] –


Hiermit könnte ich schließen; aber es drängt mich noch, auf einen Einwurf zu antworten. Man sagt wohl, das Evangelium sei erhaben und groß und sei gewiß eine heilsame Kraft in der Geschichte gewesen, aber es sei untrennbar verknüpft mit einem längst überwundenen Welt- und Geschichtsbilde; deshalb, so schmerzlich das sei und obgleich wir Besseres nicht an die Stelle zu setzen vermögen, habe es seine Gültigkeit eingebüßt und könne für uns nichts mehr bedeuten. Darauf möchte ich ein Doppeltes erwidern:

1. Gewiß, es ist ein ganz anderes Welt- und Geschichtsbild als das unsrige, mit welchem das Evangelium verbunden ist, und wir können und wollen dieses Bild nicht wieder zurückrufen; aber „untrennbar“ ist es nicht mit ihm verknüpft. Ich habe zu zeigen versucht, welches die wesentlichen Elemente im Evangelium sind, und diese Elemente sind „zeitlos“. Aber nicht nur sie sind es; auch der „Mensch“, an den sich das Evangelium richtet, ist „zeitlos“, d. h. es ist der Mensch, wie er, trotz allem Fortschritt der Entwicklung, in seiner inneren Verfassung und in seinen Grundbeziehungen zur Außenwelt immer derselbe bleibt. Weil dem so ist, darum bleibt dieses Evangelium auch für uns in Kraft.

2. Das Evangelium – und das ist das Entscheidende in seinem Welt- und Geschichtsbilde – ruht auf dem Gegensatze von Geist und Fleisch, Gott und Welt, dem Guten und dem Bösen. Nun, noch ist es den Denkern trotz heißem Bemühen nicht gelungen, eine befriedigende und den tiefsten Bedürfnissen entsprechende Ethik auf dem Boden des Monismus auszubilden. Es wird nicht gelingen. Dann aber ist es letztlich wesentlich gleichgültig, mit welchen Namen wir den Zwiespalt bezeichnen wollen, um den es sich für den sittlich empfindenden Menschen handelt: Gott und Welt, Diesseits und Jenseits, Sichtbares und Unsichtbares, Materie und Geist, Triebleben und Freiheit, Physik und Ethik. Die Einheit kann erlebt, eines dem anderen unterworfen werden; aber die Einheit kommt immer nur durch Kampf zustande in der Form einer unendlichen, nur annähernd zu lösenden Aufgabe, nicht aber durch Verfeinerung eines mechanischen Prozesses. „Von der Gewalt, die

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Mt 21,28-30 in anderer Versreihenfolge.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 094. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/098&oldid=- (Version vom 30.6.2018)