Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/138

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

eben noch ausreichenden Sittlichkeit ein. Daß die Wurzeln dieser Unterscheidung noch weiter zurückreichen, kann hier auf sich beruhen bleiben; verhängnisvoll ist sie erst gegen Ende des zweiten Jahrhunderts geworden. Aus der Not geboren und zur Tugend gemacht, wurde sie bald so wichtig, daß die Existenz des Christentums als katholischer Kirche von ihr abhing. Die Einheitlichkeit des christlichen Ideals wurde durch sie verwirrt und eine quantitative Betrachtung der sittlichen Leistung nahe gelegt, die das Evangelium nicht kennt. Wohl unterscheidet es starken und schwachen Glauben und größere und geringere sittliche Leistung, aber der Geringste im Reiche Gottes kann in seiner Art vollkommen sein.

In diesen Momenten zusammen sind die wesentlichen Veränderungen bezeichnet, welche die christliche Religion bis zum Anfang des dritten Jahrhunderts erlebt hat und durch welche sie modifiziert worden ist. Hat sich das Evangelium dennoch behauptet, und wie läßt sich das konstatieren? Nun, man vermag auf eine ganze Reihe von Urkunden zu verweisen, die, soweit geschriebenes Wort ein Zeugnis vom inneren, wahrhaft christlichen Leben ablegen kann, dieses aufs reinste und in ergreifender Weise bekunden. In Märtyrerakten wie die der Perpetua und Felicitas[WS 1], oder in Gemeindebriefen wie der von Lyon nach Kleinasien[WS 2], spricht sich der christliche Glaube und die Kraft und Zartheit der sittlichen Empfindung so herrlich aus wie nur in den Tagen der Grundlegung; alles das aber, was sich seitdem in der äußeren Ausgestaltung der Kirche vollzogen hatte, kommt gar nicht zum Ausdruck. Der Weg zu Gott ist sicher gefunden, und die Einfalt des inneren Lebens erscheint nicht verwirrt oder belastet. Nehmen wir ferner einen Schriftsteller wie den christlichen Religionsphilosophen <span title="Titus Flavius Clemens, griech. Klemes Alexandreus, Κλήμης Ἀλεξανδρεύς (* um 150 in Athen; † um 215 in Kappadokien), heute als „Clemens von Alexandria“ (Clemens Alexandrinus) bekannt, war ein griechischer Theologe und Kirchenschriftsteller." class="anno" style="color: #00AA00;;">Clemens Alexandrinus, der um d. J. 200 gelebt hat. An seinen Schriften empfinden wir noch jetzt: dieser Gelehrte – obgleich ganz eingetaucht in Spekulationen und als Denker die christliche Religion in ein uferloses Meer von „Lehren“ verwandelnd, Hellene bis in die letzte Faser – hat doch an dem Evangelium Friede und Freude gewonnen, und er vermag auch auszusprechen, was er gewonnen hat, und kann zeugen von der Kraft des lebendigen Gottes. Er erscheint als ein neuer Mensch und ist durch alle Philosophie, durch Autorität und Spekulation, durch die ganze äußere Religion hindurchgedrungen zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Alles, sein Vorsehungsglaube, sein Glaube an Christus, seine Freiheitslehre, seine Ethik, ist in Worten ausgedrückt,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Perpetua und Felicitas († 7. März 203 in Karthago) gehören zu den ersten Märtyrinnen, deren Schicksal zuverlässig überliefert ist. Nach noch erhaltenen frühchristlichen Augenzeugenberichten wurden Perpetua und ihre Sklavin Felicitas im Jahre 203 im römischen Karthago verhaftet und zum Tode verurteilt, weil sie sich auf die Taufe vorbereiteten und ihrem Glauben nicht abschwören wollten. Der Text findet sich in deutscher Übersetzung hier.
  2. Vgl. Euseb, Kirchengeschichte V 5,1.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/138&oldid=- (Version vom 30.6.2018)