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Presse; man muß – um ein Beispiel herauszugreifen – die „Dorfgeschichten“ Tolstoi’s lesen, um sich davon zu überzeugen. Wahrhaft ergreifend tritt dem Leser hier entgegen, wie tief die Kirche mit ihrer Predigt vom Ewigen, von der Selbstaufopferung, dem Mitleiden und der Brüderlichkeit in die Volksseele eingedrungen ist. Die niedrige Stufe, auf welcher der Klerus steht, und die Mißachtung, mit der ihm vielfach begegnet wird, dürfen darüber nicht täuschen, daß er als Repräsentant der Kirche eine unvergleichlich hohe Stellung einnimmt, und das Ideal des Mönchtums haftet tief in der Seele der östlichen Völker.

In diesen beiden Momenten ist aber auch erschöpft, was sich über die Leistungen dieser Kirche sagen läßt. Wenn man hinzufügt, sie habe eine gewisse Bildung verbreitet, so muß man schon einen sehr geringen Maßstab anlegen. Auch ist ihr dem Islam gegenüber das nicht mehr gelungen, was sie dem Polytheismus gegenüber erreicht hat und noch immer erreicht. Diesen überwinden die Missionen der russischen Kirche auch heute noch; an den Islam aber sind große Gebiete verloren gegangen, und die Kirche hat sie nicht wieder erobert. Der Islam ist siegreich bis an das adriatische Meer und nach Bosnien vorgedrungen; er hat zahlreiche albanesische und slavische Stämme, die einst christlich waren, für sich gewonnen. Er zeigt sich dieser Kirche gegenüber mindestens gewachsen, wenn auch nicht vergessen werden darf, daß im Herzen seines Gebietes christliche Nationen ihr Bekenntnis festgehalten haben.

2. Wodurch ist diese Kirche charakterisiert? Die Antwort ist nicht leicht; denn diese Kirche ist, wie sie sich dem Beschauer darstellt, ein höchst kompliziertes Gebilde. Die Empfindungen, die Superstitionen, die Erkenntnisse und die Kultusweisheit von Jahrhunderten, ja von Jahrtausenden sind in sie eingebaut. Aber weiter, wer diese Kirche von außen betrachtet mit ihrem Kultus, ihrem feierlichen Ritual, der Fülle ihrer Zeremonien, ihren Reliquien, Bildern, Priestern, Mönchen und ihrer Mysterienweisheit, und sie dann einerseits mit der Kirche des 1. Jahrhunderts, andererseits mit den hellenischen Kulten in der Zeit des Neuplatonismus vergleicht – der muß urteilen, daß sie nicht zu jener, sondern zu diesen gehört. Sie erscheint nicht als eine christliche Schöpfung mit einem griechischen Einschlag, sondern als eine griechische Schöpfung mit einem christlichen Einschlag. Die Christen des ersten Jahrhunderts würden sie ebenso bekämpft haben, wie sie

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/141&oldid=- (Version vom 30.6.2018)