Seite:Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Dritte Fassung).pdf/29

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viel zahlreicheren Gesichtspunkten analysierbar sind, als die Leistungen, die auf dem Gemälde oder auf der Szene sich darstellen. Der Malerei gegenüber ist es die unvergleichlich genauere Angabe der Situation, die die größere Analysierbarkeit der im Film dargestellten Leistung ausmacht. Der Szene gegenüber ist die größere Analysierbarkeit der filmisch dargestellten Leistung durch eine höhere Isolierbarkeit bedingt. Dieser Umstand hat, und das macht seine Hauptbedeutung aus, die Tendenz, die gegenseitige Durchdringung von Kunst und Wissenschaft zu befördern. In der Tat läßt sich von einem innerhalb einer bestimmten Situation sauber – wie ein Muskel an einem Körper – herauspräparierten Verhalten kaum mehr angeben, wodurch es stärker fesselt: durch seinen artistischen Wert oder durch seine wissenschaftliche Verwertbarkeit. Es wird eine der revolutionären Funktionen des Films sein, die künstlerische und die wissenschaftliche Verwertung der Photographie, die vordem meist auseinander fielen, als identisch erkennbar zu machen.[1]

Indem der Film durch Großaufnahmen aus ihrem Inventar, durch Betonung versteckter Details an den uns geläufigen Requisiten, durch Erforschung banaler Milieus unter der genialen Führung des Objektivs, auf der einen Seite die Einsicht in die Zwangsläufigkeiten vermehrt, von denen unser Dasein regiert wird, kommt er auf der anderen Seite dazu, eines ungeheuren und ungeahnten Spielraums uns zu versichern! Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwischen

  1. Suchen wir zu dieser Situation eine Analogie, so eröffnet sich eine aufschlußreiche in der Renaissancemalerei. Auch da begegnen wir einer Kunst, deren unvergleichlicher Aufschwung und deren Bedeutung nicht zum wenigsten darauf beruht, daß sie eine Anzahl von neuen Wissenschaften oder doch von neuen Daten der Wissenschaft integriert. Sie beansprucht die Anatomie und die Perspektive, die Mathematik, die Meteorologie und die Farbenlehre. »Was ist uns entlegener«, schreibt Valéry, »als der befremdliche Anspruch eines Leonardo, dem die Malerei ein oberstes Ziel und eine höchste Demonstration der Erkenntnis war, so zwar, daß sie, seiner Überzeugung nach, Allwissenheit forderte und er selbst nicht vor einer theoretischen Analyse zurückschreckte, vor welcher wir Heutigen ihrer Tiefe und ihrer Präzision wegen fassungslos dastehen.« (Paul Valéry: Pièces sur l’art, l. c. [S. 475], p. 191, »Autour de Corot«.)