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Ich habe auf einmal so viele Sinne,

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die alle anders durstig sind.

Ich fühle mich an hundert Stellen
schwellen und schmerzen.
Aber am meisten mitten im Herzen.

Ich möchte sterben. Laß mich allein.

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Ich glaube, es wird mir gelingen,

so bange zu sein,
daß mir die Pulse zerspringen.


Sieh, Gott, es kommt ein Neuer an dir bauen,
der gestern noch ein Knabe war; von Frauen
sind seine Hände noch zusammgefügt
zu einem Falten, welches halb schon lügt.

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Denn seine Rechte will schon von der Linken,

um sich zu wehren oder um zu winken
und um am Arm allein zu sein.

Noch gestern war die Stirne wie ein Stein
im Bach, geründet von den Tagen,

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die nichts bedeuten als ein Wellenschlagen

und nichts verlangen, als ein Bild zu tragen
von Himmeln, die der Zufall drüberhängt;
heut drängt
auf ihr sich eine Weltgeschichte

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vor einem unerbittlichen Gerichte,

und sie versinkt in seinem Urteilsspruch.

Raum wird auf einem neuen Angesichte.
Es war kein Licht vor diesem Lichte,
und wie noch nie beginnt dein Buch.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_019.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)