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und das zitterndste Bild, das mir meine Sinne erfinden,

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du würdest es blind durch dein einfaches Sein übertreiben.


So will ich die Dinge in dir nur bescheiden und schlichthin benamen,
will die Könige nennen, die ältesten, woher sie kamen,
und will ihre Taten und Schlachten berichten am Rand meiner Seiten.

Denn du bist der Boden. Dir sind nur wie Sommer die Zeiten,

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und du denkst an die nahen nicht anders als an die entfernten

und ob sie dich tiefer besamen und besser bebauen lernten:
du fühlst dich nur leise berührt von den ähnlichen Ernten
und hörst weder Säer noch Schnitter, die über dich schreiten.


Du dunkelnder Grund, geduldig erträgst du die Mauern.
Und vielleicht erlaubst du noch eine Stunde den Städten zu dauern
und gewährst noch zwei Stunden den Kirchen und einsamen Klöstern
und lässest fünf Stunden noch Mühsal allen Erlöstern

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und siehst noch sieben Stunden das Tagwerk des Bauern –:


Eh du wieder Wald wirst und Wasser und wachsende Wildnis
in der Stunde der unerfaßlichen Angst,
da du dein unvollendetes Bildnis
von allen Dingen zurückverlangst.

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Gib mir noch eine kleine Weile Zeit: ich will die Dinge so wie keiner lieben,

bis sie dir alle würdig sind und weit.
Ich will nur sieben Tage, sieben,
auf die sich keiner noch geschrieben,
sieben Seiten Einsamkeit.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_044.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)