Seite:Das Stundenbuch (Rilke) 045.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
15
 Wem du das Buch gibst, welches die umfaßt,

der wird gebückt über den Blättern bleiben.
Es sei denn, daß du ihn in Händen hast,
um selbst zu schreiben.


So bin ich nur als Kind erwacht,
so sicher im Vertraun,
nach jeder Angst und jeder Nacht
dich wieder anzuschaun.

5
Ich weiß, sooft mein Denken mißt,

wie tief, wie lang, wie weit –:
du aber bist und bist und bist,
umzittert von der Zeit.

Mir ist, als wär ich jetzt zugleich

10
Kind, Knab und Mann und mehr.

Ich fühle nur, der Ring ist reich
durch seine Wiederkehr.

Ich danke dir, du tiefe Kraft,
die immer leiser mit mir schafft

15
wie hinter vielen Wänden;

jetzt ward mir erst der Werktag schlicht
und wie ein heiliges Gesicht
zu meinen dunklen Händen.


Daß ich nicht war vor einer Weile,
weißt du davon? Und du sagst nein.
Da fühl ich, wenn ich nur nicht eile,
so kann ich nie vergangen sein.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_045.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)