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zaghaft machte sie sich von ihm los und sagte mit ihrer weichen, süßen Stimme:

„Seien wir verständig, mein Freund. Wir wissen, daß wir einander nie angehören können, nie! Und – ich danke Ihnen, Heinz, danke Ihnen aus vollem Herzen dafür, daß Sie diese Minute stillen Selbstvergessens nicht ausgenutzt haben – nicht das taten, was ein wenig ehrenhafter Charakter vielleicht gewagt hätte. Unsere Lippen sind rein geblieben, damit auch unsere Freundschaft. Und die wollen wir uns erhalten – bitte – bitte.“

Mit festem Druck fügten sich ihre Hände ineinander.

Heinz Gersters Kehle war wie zugeschnürt, jeder Nerv bebte an ihm. Alles in ihm bäumte sich auf gegen das Schicksal, das sie trennte, das ihre Wege nie zusammenführen würde, nie.

Da sprach sie schon weiter, gab seinen Gedanken eine andere Richtung.

„Lieber Freund, Sie haben mich schon so oft gebeten, Ihnen meine Lebensgeschichte zu erzählen. Vielleicht tue ich’s heute. Kommen Sie nachmittags zu mir in das kleine Gärtchen unter die breitästige Linde. Sie sollen sehen, daß ich Vertrauen zu Ihnen habe. Das soll mein Dank sein. – Und noch etwas anderes. Bleiben Sie jetzt bitte hier und geben Sie acht, ob wirklich einer der Schiffbrüchigen gerettet ist. Nachher erzählen Sie mir alles, nachher. Auf Wiedersehen.“

Leicht, federnden Schrittes ging sie über die Planken der Bootsbrücke hin. Versonnen schaute Doktor Gerster ihr nach.

Ein tiefer, qualvoller Seufzer entrang sich seiner Brust.

„Warum kann es nicht so sein, warum?“ dachte er, mit dem Geschicke hadernd, das ihn gerade hier in dem kleinen Fischerdorfe zufällig das Weib kennenlernen

Empfohlene Zitierweise:
W. von Neuhof: Das graue Gespenst. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_graue_Gespenst.pdf/23&oldid=- (Version vom 31.7.2018)