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völlig jünglinghafte, ihr Geist hat in seiner kühlen Schärfe etwas Männliches. Man erzählt sich nur eine weibliche Schwäche von ihr: als vor Jahr und Tag der Patriarch von Ferney, in dessen Tragödie „les Lois de Minos“ sie sich weigerte, aufzutreten, ihre Tugend angriff, fiel sie in Ohnmacht. Seitdem ist sie unempfindlicher geworden. In den Rollen tragischer Heldinnen ist sie unvergleichlich, dagegen fehlt es ihr für die Rollen der Liebhaberin, die sie im Leben zu spielen versucht, an Grazie. Daher sind wohl auch ihre Verehrer meist sehr junge Leute, die mehr bewundern als lieben, mehr Schüler als Herren sind. Sie gehört zu den ständigen Besucherinnen der Gärten des Palais-Royal, wo sie weit mehr Frauen als Männer um sich versammelt. Eine der Pariser Sensationen war es, als sie kürzlich in einem der berühmten Privatzimmer der Madame Gaillard einen Frauenklub gründete, von dem die Lästerzungen der Kaffeehäuser, die viel giftiger sind als die der Salons, weil sie jeder guten Form entraten, allerhand Böses zu sagen wissen. Im übrigen glaube ich nicht, daß Mademoiselle Raucourt mehr als irgend eine andere der neuen Frauentypen ein Gegenstand Ihres Interesses zu sein verdient.

Sie fragen sodann, verehrte Frau Marquise, nach neuen Romanen, nach dem Befinden der Königin, nach den Aussichten des Ministeriums,

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Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/099&oldid=- (Version vom 31.7.2018)