Seite:De Flüssige Kristalle Lehmann 19.jpg

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     Sehr häufig treten im Falle solcher nicht isomorpher Mischungen, die sich besonders bei künstlicher Färbung feststellen lassen, z. B. von Meconsäure mit Gentianaviolett, (wobei der auftretende Dichroismus beweist, daß sich die Farbstoffmoleküle regelmäßig orientiert einlagern), sehr erhebliche Strukturstörungen ein[1] (Fig. 15), z. B. Verbiegungen, Verdrillungen, fächerartige Zerfaserungen und Aufblätterungen bis zur Bildung von Sphärokristallen[2] (z. B. bei Benzoin mit wenig Kolophonium. Fig. 16), welche als Mißbildungen eines Kristallindividuums aufzufassen sind, keineswegs wie man früher glaubte, als radiale Gruppierungen zahlreicher Nadeln um denselben Kristallisationskern.

     Zwischen gekreuzten Nicols zeigen doppelbrechende Sphärokristalle entsprechend ihrer Struktur ein schwarzes Kreuz (falls einachsig parallel den Nicoldiagonalen), welches also beim Drehen des Präparats stehen bleibt. Ein besonders schönes Beispiel dafür ist Cholesterylacetat, bei welchem wahrscheinlich Einlagerung einer zweiten Modifikation die Strukturstörung hervorbringt.

     Aus diesen Ergebnissen über die Möglichkeit mechanischer und chemischer Störung der Struktur von Kristallen folgt, daß man zu Unrecht mathematisch regelmäßige Raumgitterstruktur als das wesentliche Kennzeichen der Kristalle betrachtete[3] und aus diesem Grunde völlige Verschiedenheit der aufbauenden Kräfte bei Kristallen und Organismen annehmen zu müssen glaubte. Da die Raumgitterstörung die Eigenschaften, die eben nur durch die Beschaffenheit der Moleküle bedingt sind, nicht ändert, war auch die weitere Meinung, Kristalle müßten notwendig hart und spröde, also auch in dieser Hinsicht von lebender Substanz wesentlich verschieden sein, hinfällig geworden. Da die thermische Bewegung die Abstände der Moleküle zu vergrößern und damit deren gegenseitige Richtkräfte zu vermindern strebt, da weiter als Ursache der Isotropie der gewöhnlichen Flüssigkeiten zu geringe molekulare Richtkraft anzunehmen war, so lies sich vermuten, daß es weiche


  1. O. Lehmann, Z. f. Kristallographie 1 (1877), 479; 8 (1883), 438; 10 (1885), 7, Tafel 1, Fig. 39; 18 (1890), 459, Fig. 1 - 5; Progr. d. Mittelsch. Mülhausen i. E. 1877, 10, Fig. 8; Flüssige Kristalle 1904, 123; Z. phys. Chem. 1 (1887), 22; 8 (1891), 543; Wied. Ann. 51 (1894), 57.
  2. O. Lehmann, Molekularphysik 1 (1888), 385; Flüssige Kristalle 1904, 126.
  3. Vgl.W. Bein, Das chemische Element, Leipzig 1920; P. Groth, Elemente d. phys. u. Chem. Kristallogr. München 1921 und F. Rinne, Die Kristalle als Vorbilder des feinbaulichen Wesens der Materie, Berlin 1921.